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taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI mit Armin Nassehi Ein Etikettenschwindel

Warum Gemeinsinn eine naiv-bürgerliche Kategorie ist, die die grundlegenden Konflikte nicht bearbeiten kann, sondern ausblendet. Eine Publikumsbeschimpfung.

Die Kategorie Gemeinsinn funktioniert letztlich nur unter Gleichgesinnten Foto: dpa | Andreas Arnold

In der „Blattkritik“ bitten wir um eine kritische Auseinandersetzung mit einem Thema oder Aspekt von taz FUTURZWEI.

Ich gebe es zu, ich mag „Gemeinsinn“ nicht, noch weniger als seine Schwester, den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, eine unbestimmte Kategorie, für deren Erforschung gerade Millionen von Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verpulvert werden. Also, ich habe nichts dagegen, dass Leute sich zusammentun und sich nicht spinnefeind sind, aber als Konzept taugen solche Begriffe nicht. Ich würde fast umgekehrt sagen: Die Forderung nach allzu viel Gemeinsinn und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist eher ein Krisenphänomen, und ich wünsche mir eine Gesellschaft, die auf möglichst viel Gemeinsinn und Zusammenhalt verzichten kann. Denn der müsste ja hergestellt werden, und was ist dann mit jenen, die anderen Sinnes sind? Müssen die raus?

Wer von Gemeinsinn redet, laboriert an einem nachgerade naiven Verständnis von Gesellschaft. Diese ist in ihrer Sozialdimension so heterogen, dass Gemeinsinn nur eine asymptotische Restkategorie sein kann. Und sie ist in ihrer Sachdimension so heterogen, dass man die unterschiedlichen Perspektiven gerade nicht durch Gemeinsinn zusammenbringt. Immer wenn das nicht geht, haben sie es mit starken Gemeinsinnkategorien versucht – historisch zur Verfügung standen hypertrophe Erwartungen an die Nation, die bisweilen übererfüllt wurden, oder akademisch verbrämte Rationalisierungen wie der Verfassungspatriotismus, an den man tatsächlich nur akademisch glauben konnte. Er verhält sich wie der Gott der Philosophen zu dem, an den man religiös glauben kann.

Mir scheint Gemeinsinn eine bürgerliche Kategorie zu sein, die die Gesellschaft als Großgruppe nach dem Bilde einer Familie oder eines diskutierenden Salons nachempfindet, abhängig vom distinguierten bürgerlichen Habitus vordergründigen Harmoniebestrebens bei Ausblendung grundlegender Konflikte. Gemeinsinn als Kategorie extrapoliert eine bestimmte Milieuerfahrung, die freilich mehr Erwartung und Habitus ist als Erfahrung.

Bild: Simon Gerlinger
Armin Nassehi

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Uni München, Systemtheoretiker und Herausgeber des Kursbuchs. Zuletzt erschienen: Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken. C.H.Beck 2024 – 224 Seiten, 18 Euro

Interessant wird es doch erst dort, wo man nach zivilisierten Formen der Handlungskoordination und des Interessenausgleichs mit denen sucht, mit denen man nicht durch einen imaginierten Gemeinsinn, sondern eher im Modus des Aushaltens, der Toleranz dem eigentlich Nicht-Akzeptablen gegenüber (anderes muss man ja nicht tolerieren) und einer gepflegten sozialen Distanz und Indifferenz verbunden ist.

Deshalb funktioniert die Kategorie Gemeinsinn letztlich auch nur unter Ähnlichen, unter Gleichgesinnten – und so ist es dann zumeist auch gemeint. Nur ist Gemeinsinn dann ein gewisser Etikettenschwindel, wenn man die meint, mit denen man ohnehin gemein ist. Mit dem eigenen Milieu Gemeinsinn zu pflegen, das ist nicht besonders voraussetzungsreich, aber das Unaushaltbare auszuhalten, das ist eine Leistung – und zwar ohne die Zumutung eines Gemeinsinns, den man nicht herstellen kann und sollte, weil es am Ende doch zu einebnend wäre. Mir fallen jedenfalls viele Milieus und Gruppen ein, mit denen ich mich wirklich nicht gemein machen möchte, mit denen ich mir aber umso mehr und gerade deshalb eine zivilisierte Form des Interessenausgleichs und der Handlungskoordination wünsche.

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN

Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?

Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.

Erscheint am 10. Dezember 2024.

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Wahrscheinlich reicht als Gemeinsinn und Zusammenhalt die Geltung und Durchsetzbarkeit von Verfahren – Verfahren der parlamentarischen Legitimation von Herrschaft, Verfahren der rechtlichen Herstellung normativer Erwartungssicherheit, Verfahren der Anspruchsberechtigung gegenüber staatlichen Versorgungsangeboten, Verfahren der Teilhabe an öffentlichen Infrastrukturen, Bildungs- und Medienangeboten. Mehr müsste eigentlich nicht nötig sein. Mir ist bewusst, dass das ein wenig nach „Verfassungspatriotismus“ riecht, aber ich würde es eine Nummer kleiner wollen: als durchsetzbare Geltung.

Meinem Argument könnte man nachsagen, dass es allzu nuanciert vorgetragen sei, vielleicht mit einer gewissen Übertreibung. Das mag sein. Aber was ist dagegen das Phantasma dieser Beschwörung eines „Gemeinsinns“, der vor allem von jenen vorgetragen wird, die gerührt sind von ihrer eigenen Selbstlosigkeit, dabei spielen sie nur jenes Selbst aus, das ihrem Milieucode entspricht?