tamtürktür … am van-see ist die hölle los (III):
von BJÖRN BLASCHKE
Meine Gefährtin und ich beschlossen, einen lauschigen Herbstspazierganges am Van-See zu unternehmen. Aber das Ufer des Van-Sees bot keine prima Promenade. Es war ein gigantomanischer, gulpender Gammelschlock, auf dem wir glitschten, rutschten, flutschten, bis wir zu versinken drohten. Buchstabensupplich in letzter Sekunde schafften wir es, uns auf einen kleinen Schutthügel zu retten. Glücklich dem Unausweichlichen entwichen zu sein; unglücklich darüber, dass wir dem Wasser des Sees nicht nahe gekommen sind, atmeten wir tief durch. Für kurze Zeit. Gerade nämlich als wir uns wieder in Richtung tatvanesischer Hauptstraße aufgemacht hatten, hörten wir sie kommen; sogar ziemlich schnell kommen. Und obwohl wir gleichfalls einen Zahn zulegten, holten sie auf und umzingelten uns schließlich: Zerberus und seine Kumpels; ein Rudel von mindestens zehn Höllenhunden. Die wir mit Honigkuchen besänftigten. Da ich glücklicherweise in meinem Rucksack immer vier bis fünf dieser Leckerlis mit mir herumtrage, konnten wir uns den Weg freikaufen.
Der Schrecken sollte damit indes noch nicht vorüber sein. Kaum waren wir erneut auf Tatvans dunkler Hauptstraße angelangt, ereilte uns der nächste Schock: Aus einer Seitenstraße kam ein Mann auf uns zu geschlurft; ein Mann, dessen sichtbare Körperteile komplett behaart waren. Die Hände: von den Gelenken bis zu den Nägeln; das Gesicht: durchgehend bis hinunter zur Brust. Nur auf dem Nasenrücken war eine Art Scheitel.
Kurz nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl sollen, das hatte ich Jahre zuvor gelesen, im Osten der Türkei ungewöhnlich viele Kinder mit Atavismen geboren worden sein. Ob dieser Mann mit einem solchen Tschernobyl-Atavismus auf die Welt gekommen war? Wir wussten es nicht. Ja, bereits nach einigen Schrecksekunden wussten wir nicht einmal mehr, ob wir den Mann wirklich gesehen hatten. Die Menschen um uns herum zogen nämlich völlig ungerührt weiter ihre Kreise.
Nichts hielt uns länger in Tatvan. Am nächsten Morgen bestiegen wir den Frühbus nach Van. Dort, bloß eine gute Autostunde den See entlang, durch die Berge in Richtung Iran, das wussten wir, befindet sich ein Flughafen mit täglichen Verbindungen in den Westen der Türkei. Mit etwas Glück, hofften wir, würden wir zwei Tickets für den Flug nach Ankara ergattern. Und wir hatten Glück; vier Stunden nach unserer Flucht aus Tatvan hatten wir gebucht, bezahlt und unser Gepäck aufgegeben. Gerettet? Weit gefehlt: Noch in der Wartehalle fragte uns ein Mann, wie es uns im Osten seines Landes gefallen habe? Ob wir es gesehen hätten? „Es“, fragte ich zurück, „das Land?“ – „Nein“, mirakelte der Mann mystisch, „ES! Manche Menschen behaupteten, dass im Van-See ein Urwesen haust. Wie in den Tiefen von Loch Ness …“ Künftig, das schworen meine weißellbogige Gefährtin und ich, als wir von der Startbahn abhoben, würden wir nur noch bei den wahren Türken von Köln-Nippes Urlaub machen. Oder in Kreuzberg. Erst nach diesem Eid hatte er ein Ende: der Vansinn.
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