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Syrischer Journalist über AusgrenzungWie Worte Zugehörigkeit zerstören

Kommentar von

Osamah Ali Hamad

Deutschland ist für viele syrische Menschen ihr zu Hause. Merz' Stadtbildaussage und Forderungen nach schneller Rückkehr zerstören dieses hart erkämpfte Gefühl.

„Hochkomplexe Zeiten erfordern komplexe Antworten und nicht unterkomplexe Redensarten“: Kanzler Merz am 26.11. im Bundestag Foto: Jens Gyarmaty/laif

V or zehn Jahren kam ich als Flüchtling nach Deutschland. Heute, als deutscher Staatsbürger und Syrer, frage ich mich, wie sehr ich mich hier wirklich zu Hause fühlen darf. Nie war mein Zugehörigkeitsgefühl so bedroht wie in den letzten Monaten – nicht durch eine Veränderung der Gesetze, sondern durch die Sprache der Politik. Unter dem Vorwand, die „Ordnung“ wiederherzustellen, wird ein neues Bild von Menschen mit Migrationshintergrund gezeichnet. Sie gelten nicht mehr als Menschen mit Rechten, sondern als störendes Element im Stadtbild.

Diese Verschiebung im Diskurs ist tiefgreifend. Sie betrifft nicht nur Geflüchtete, sondern auch Menschen, die seit Generationen als deutsche Staatsbürger hier leben und arbeiten. Sie erinnert uns Menschen mit Migrationshintergrund daran, dass Zugehörigkeit entzogen werden kann – manchmal nur durch einen einzigen Satz.

Bundeskanzler Merz sprach im Herbst von „Problemen im Stadtbild“ und notwendigen Rückführungen. Jens Spahn reduzierte Araber, Muslime und Syrer auf Chaos, Kriminalität und Verfehlungen. Solche Worte sind kein Versprecher, sie formen das kollektive Bewusstsein und rechtfertigen neue Einschränkungen. Der Bundeskanzler versucht, den Aufstieg der extremen Rechten zu stoppen, indem er ihre Sprache übernimmt. Doch das funktioniert nicht. In Umfragen liegt die Alternative für Deutschland (AfD) auf Bundesebene konstant knapp hinter oder sogar etwas vor Merz’ Partei.

Gleichzeitig regt sich Widerstand. Demonstrationen wie „Wir sind das Stadtbild“ oder Hashtags wie #WirSindDieTöchter zeigen, dass Deutschland größer und diverser ist, als Merz und Spahn sagen. Bundespräsident Steinmeier und Außenminister Wadephul mahnen, dass eine Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ein zerstörtes Land Zeit braucht und dass ihre Sicherheit und Würde dort gewährleistet sein müssen, bevor sie zurückkehren können – Bedingungen, die bisher kaum erfüllt sind. Die Kritiker innerhalb der CDU fordern schnelle Rückführungen, ignorieren aber andauernde Konflikte, Repressionen, zerstörte Infrastruktur und das Leid von Millionen Menschen.

Dossier zum Flüchtlingssommer 2015

Seit dem Fluchtsommer 2015 stemmt sich die deutsche Politik gegen das Ankommen der Geflüchteten: mit Arbeitsverboten, Wohnsitzauflagen, unterfinanzierten Integrationskursen genauso wie mit rassistischen Debattenbeiträgen. Und doch haben es Millionen Geflüchtete geschafft, ihren Platz in diesem Land zu finden – und jeden Tag werden es mehr. Sie finden Wohnungen, Jobs, Freun­d*in­nen und manchmal auch die Liebe. Sie lassen sich einbürgern, gehen wählen, gründen Betriebe. Sie werden Teil dieser Gesellschaft. Allen Widerständen zum Trotz.

Wir widmen uns dem Thema in der taz vom 27.11.2025 mit einem dritten Dossier zum Fluchtsommer vor 10 Jahren. Und wie in den vorangegangenen Sonderausgaben stehen verstreut auf den Seiten auch dieses Mal wieder Gedichte von Autor*innen, die selbst einst nach Deutschland geflohen sind. Ihr Werk ist der Beweis: Ankommen ist möglich.

Alles Texte aus den drei Dossiers erscheinen online nach und nach hier.

Die Realität in Syrien besteht aus einer fragilen Sicherheitslage, zerstörten Städten, kaum vorhandener Infrastruktur, hoher Arbeitslosigkeit, Inflation, zusammengebrochenen Bildungs-, Gesundheits- und Wohnsystemen. Ähnlich wie Deutschland nach 1945 wird Syrien Jahre des schrittweisen Wiederaufbaus, internationale Unterstützung und funktionierende Institutionen brauchen.

Zugehörigkeit ist kein statischer Begriff

Für viele Syrerinnen und Syrer in Deutschland ist jede Äußerung von Politikern ein Prüfstein ihrer eigenen Zugehörigkeit. Das passiert, wenn diejenigen, die sich integriert haben, arbeiten und Steuern zahlen, vom Kanzler hören, dass ihre Anwesenheit ein „Problem“ sei, das durch Abschiebung gelöst werden könne.

Diese Sprache wirkt wie eine Waffe: Sie verdeutlicht, dass Zugehörigkeit nicht selbstverständlich ist, sondern erkämpft werden muss. Integration allein genügt nicht. Wir brauchen politische Teilhabe, eigene Narrative und Erfolgsgeschichten, um gegen pauschale Diffamierungen anzutreten.

Als Journalist, der seit zehn Jahren in diesem Land lebt, weiß ich, dass Zugehörigkeit kein statischer Begriff ist. Sie ist ein Zustand, der sich Tag für Tag durch Worte, Taten und gegenseitigen Respekt neu formiert.

Zugehörigkeit entsteht durch aktiven Widerstand gegen Ausgrenzung. Mehr als eine Million Syrer sind ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Die Syrerinnen und Syrer bilden eine lebendige, vielfältige Gemeinschaft, die hier arbeitet, studiert, ihre Kinder großzieht und die sich wünscht, dass Deutschland ein echtes Zuhause ist – und nicht nur eine Wartestation, die an einem seidenen Faden von Verlautbarungen hängt. Verantwortungsvoller Diskurs, respektvolle Sprache und gesellschaftliche Anerkennung sind entscheidend, damit Kinder aufwachsen und Menschen sich sicher fühlen können.

Die Voraussetzungen für eine mögliche Rückkehr nach Syrien zu schaffen, ist ein langfristiger Prozess. Bis dahin bleibt Deutschland das Zuhause, in dem syrische Familien ihre Zukunft aufbauen und zur Vielfalt der Gesellschaft und dem deutschen Wohlstand beitragen. Worte können diese Zugehörigkeit zerstören oder festigen. Die Politik entscheidet, welchen Weg sie wählt.

Der Autor erscheint auch in der Kolumne „Ankommen“ und im Podcast „geschafft?“ der taz Panter Stiftung.

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1 Kommentar

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  • Ich hoffe doch sehr, dass das Gefühl für viele Syrer*innen hier zu Hause zu sein, nicht dann schwindet, wenn es wieder sicherer ist in Syrien zu leben. Das Gefühl sollte auf Dauer gefestigt werden. Was ich hier in meinem Umfeld an syrischen und anderen Geflüchteten erlebe, das ist Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Respekt. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, doch das Gesamtbild ist positiv. Deren Kulturen, Lebensgewohnheiten sind interessant. Es gibt natürlich auch Querköpfe, doch die sind sehr eindeutig in der Minderheit. Gleichzeitig aber stellt man fest, dass diesen Leuten oft, viel zu oft, mit Schikanen, blöden Sprüchen oder purer Abneigung begegnet wird - von unseren Mitbürger*innen. Bringen wir den Menschen doch Respekt entgegen!! Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus....