strafplanet erde: weisheit wie des hammers flug von DIETRICH ZUR NEDDEN:
In dem Viertelpfund Halbbildung, das unsereins erworben hat, um es zu besitzen oder damit zu kokettieren, sind jede Menge Schlagworte eingearbeitet, darunter ungefähr zwei bis vier von Nietzsche. „Mit dem Hammer philosophieren“ zum Beispiel, der Ausdruck liegt irgendwo im Gehirnarchiv herum. Statt aber das dazugehörige Buch je gelesen zu haben oder den Müßiggang einer Sonnabendnacht dafür zu nutzen, sitzt man vor der Kiste und schaut nach Edmonton/Kanada. Keiner da? Aber doch, da, Leichtathleten aus aller Welt im vorbildlich friedlichen Wettstreit.
Und auf dem Bildschirm zwei Deutsche, die ich angesichts ihrer physischen Erscheinung für Hammerwerfer hielt. Was die beiden Kraftquadrate sagten, war vielleicht nicht direkt philosophisch, immerhin aber machte der erste ein zutiefst existenzielles Geständnis: „Vorgestern wollte ich sterben.“ (Ungefähr an dieser Stelle kramte mein interner Assoziationsblaster Nietzsche vor.) Der andere Protz fügte der Todessehnsucht seines Kollegen ein Quantum Melancholie hinzu: „Ich fühl mich wie der Dax. Der geht ja auch immer nach unten.“ Sind das nicht geflügelte Worte, die sich der Weisheit und Selbsterkenntnis nähern, wie des Hammers Flug mählich steigend übers Stadion hinaus dem sommerlich flirrenden Äther, um dann jäh fallend umzukehren zur dunklen Erde hinab? Und der im Rasen einschlagend bei dreiundfünfzig Meter null drei endet?
Offenbar waren die Herren gescheitert, für diese blitzartig in den Dämmer schießende Erkenntnis reichte mein Aufmerksamkeitspegel noch, und im Scheitern zeigten sie Größe, im Augenblick der Niederlage zeigten sie, was sie wirklich drauf hatten. Da meldete sich eine sonore Stimme aus dem Off: „Gut, dass er sich nicht wie der Nemax fühlt. Der fällt ja noch rasanter.“ Es war Dieter Adler, der wahrscheinlich schon als Dreißigjähriger der große alte Mann der Leichtathletik-Reportage gewesen ist. Und jetzt immer noch mitmacht! Toll.
Weniger toll war die Ankündigung, dass nun die Qualifikation im Hammerwerfen der Männer beginne. Begönne? Egal, jedenfalls konnten meine feinsinnigen Schwerathleten keine Hammerwerfer sein. Es waren Kugelstoßer. Somit war mein Nietzsche-Verweis hinfällig, unbrauchbar. Dann aber doch nicht so ganz. Denn ich lernte, dass Kugelstoßen im englischen Shot Put heißt und die Kugel für die Männer sieben Komma zwei fünf sieben Kilogramm wiegt. Mit solch exakten Angaben kann doch kein Philosoph mithalten. Das wusste auch Nietzsche und deshalb erschien „Die Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert“ 1889, genau zwei Jahre nachdem der in der Leichtathletik verwendete Hammer seine heutige Form mit Griff, Verbindungsdraht, kugelrundem Kopf aus Metall und einem Gesamtgewicht von sieben Komma zwei sechs Kilogramm bekommen hat.
Aber erst in der Nacht zum Montag sagte Hans-Dieter Poschi mitten in der Fernsehübertragung: „Also, liebe Zuschauer, hat sich doch gelohnt, dass Sie aufgeblieben sind.“
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