strafplanet erde: verirrte novemberdepression:
von DIETRICH ZUR NEDDEN
Jahr für Jahr stellt sich die Frage, was zuerst da war: Der November als Zeit des Büßens, Betens, Trauerns, Totengedenkens und der aus allen vier Elementen sich ergebenden Friedhofsreportagen (vorzugsweise aus Wien, London oder Paris), oder nicht doch die Herbst- und Winterdepression, welche die Menschen des Abendlands in diesem Monat überfiel und anpackte, die innere Leere und Versteinerung, woraus sich dann erst die Idee formte, diesen Monat dem Totengedenken etc. zu widmen?
Dass es nun ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes „Kompetenznetz Depression“ gibt, lässt einen etwas optimistischer der ansonsten kümmerlichen Chance einer Antwort entgegensehen. Also: Die Entscheidung wird vertagt bis zum Frühjahr. Aber Vorsicht! Ausgerechnet wenn der kalte, harte, dunkle Winter endlich vorbei zu sein scheint, was schon mal Ende Februar, Anfang März sein kann, ist’s gefährlich. „Man glaubt, es ist schön und gesund draußen“, schreibt der Realitätenvermittler Karl Hennetmair in seinem Tagebuch zu Thomas Bernhard, „aber bei uns haben die Mütter die Kinder im Zimmer gehalten und ihnen gedroht, draußen werde sie das Märzenkalbl erwischen.“ Übrigens ist angeblich im Frühjahr die Zahl der Menschen, die den Freitod suchen, viel höher als im Herbst. Der tief traurige Mensch sieht die heiter Verliebten ihm gegenüber, die knospende Natur um ihn herum – und das macht ihn erst richtig fertig.
Es war nun nicht im November, sondern an einem prachtvollen Sommerabend, als ich mit einem Bekannten im Biergarten saß. Seine Mutter war kürzlich gestorben und er, noch immer sehr verzweifelt, erzählte von der Trauerfeier. Der gerade erst ins Amt berufene Dorfpastor, der die Verstorbene gar nicht gekannt hatte, hielt die Predigt und nannte sie bei ihrem Vornamen, ohne zu wissen, dass der in diesen Längs- und Breitengeraden nicht englisch Elliss ausgesprochen wird, sondern Alietsche, sprach also dauernd von der „lieben Elliss“. Plötzlich, sagte mein Bekannter, sei ihm jener Song durch den Kopf geschossen „Alice, Alice, who the fuck is Alice?“ Ob das nicht eventuell sogar ein kathartischer Moment, ein Lösungsversuch aus der Mutter-Sohn-Beziehung hätte sein können, so blöd will ich nicht fragen, sondern schnell noch auf eine Szene aus einem Roman Nabokovs hinweisen, die ihrerseits im Frühling spielt.
Ein Mann liegt im Sterben. Die Verwandten haben das Zimmer abgedunkelt, die Rollos heruntergelassen. Da, in einem „Moment der Klarheit“ sagt er: „Was für ein Unsinn. Natürlich kommt danach nichts.“ Seufzend horcht der Mann, von draußen hört er ein Prasseln und sanftes Trommeln, das Tropfen aufs Fensterbrett und wiederholt „mit ungewöhnlicher Deutlichkeit“: „Da kommt nichts. Das ist so klar wie der Umstand, dass es regnet.“ Draußen aber war der herrlichste Frühlingstag, der Himmel „träumerisch und wolkenlos“. Die Frau, die eine Etage darüber wohnte, goss ausgiebig ihre Balkonblumen „und das Wasser floss prasselnd nach unten“. Kompetenznetzwerk Irrtumsforschung, übernehmen Sie.
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