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Archiv-Artikel

strafplanet erde: der wutausbruch von DIETRICH ZUR NEDDEN

Der Satan war in Hans-Georg Krakowskis Mutter gefahren. Anders waren der Krach und das Keifen nicht zu erklären, das überwältigende Getöse, das vom Flur aus durch die geschlossene Tür ins Wohnzimmer drang. Sank der Lärmpegel für Sekunden, hörte man ein Knacken und dann noch eins. Mit einiger Mühe war dem zornigen Geschrei zu entnehmen, dass Hans-Georg Krakowskis Mutter eine Strafaktion durchführte und dabei war, die Schallplattensammlung ihres Sohnes Stück für Stück entzweizubrechen.

Bis zu dem Augenblick, als sich Hans-Georg Krakowskis Mutter in eine Furie verwandelte, war es für ihr einziges Kind ein viel versprechender, ein ehrenvoller Tag gewesen. Es hatte Besuch von Matthias Blum.

Hans-Georg Krakowski hatte keine Freunde, zumindest nicht die richtigen, aber reiche Eltern und besaß mehr Platten als Blums drei ältere Brüder zusammen: Beatles, Mungo Jerry, Simon & Garfunkel, alles dabei – und er hatte Blum davon erzählt. Wie selten besuchte ihn jemand aus der Klasse! Weil die Zahnspange seine feuchte Aussprache wässerte? Wegen der notorisch quengelnden Stimme? Für all das konnte er nichts, klar, ebenso wenig wie für das unvermeidliche Stottern, wenn er aufgeregt war. Der klobige, kraftlose Körper? Es sah schon ulkig aus, wenn er beim Turnen bäuchlings auf dem Bock landete. Hans-Georg Krakowski war eine arme Sau. Und die klitzekleine Chance, in der Hierarchie einer vierten Klasse ein paar Stufen hinaufzuklettern, war nun durch Blums Zeugenschaft in Ewigkeit vergeigt. Das Gezeter trieb Hans-Georg Krakowski die Schamesröte ins Gesicht, dann senkte sich sein Blick. Im Stillen wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass sich der Boden unter ihm auftun und ihn verschlingen möge. Hinabgerissen in den finstersten Schlund würde er es dort besser haben. Nichts half, auch nicht, die Tür aufzureißen und die Mutter unter Tränen anzuschreien. Zurückkehrend stammelte Hans-Georg Krakowski nur noch, dass seine Mutter eben „manchmal verrückt“ sei.

Hans-Georg Krakowski hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Hatte er zum wiederholten Male seine Schuhe nicht ausgezogen, bevor er das Wohnzimmer betrat? Das Zimmer nicht aufgeräumt? Die Haare nicht gekämmt? Irgendetwas völlig Belangloses, eine Lappalie.

Blum war baff. Faszinierenderes als diesen weiß glühenden Wutausbruch hatte er lange nicht erlebt. Nichts dergleichen je zu Hause. Egal, was passierte, Blums Mutter war nicht aus der Ruhe zu bringen. Als er bei A&O eine Zehnerpackung Ernte 23 klaute und dabei erwischt wurde – sie blieb gelassen. Als Blum die Blockflöte am Türstock zertrümmerte, um nie wieder üben zu müssen – „Na, dann hör halt auf“. Als er die kleine Schwester mitsamt Klamotten unter die eiskalte Dusche stellte – halb so schlimm. Die Klienten, die Blums Mutter in ihrem Beruf als Kinderärztin und Therapeutin betreute, waren von ganz anderem Kaliber.

Man erzählt sich, dass Blum nach einem Soziologie-Studium (Doktorarbeit über den „Begriff der repressiven Toleranz“) und mehreren ABM-Stellen zurzeit arbeitslos sei. Krakowski arbeitet als Moderator bei einem bayerischen Privatradio.