strafplanet erde: das law des orderen von DIETRICH ZUR NEDDEN:
Nein, nein, nein, ich will nachher niemanden auch nur im Entferntesten in die Nähe von irgendjemand anderem stellen, und als stets kompromissbereiter Fuzzi bin ich selbstredend rechtsstaatlicher Demokrat. Nur noch mal zur Erinnerung: Wir leben in einer Demokratie, und das bedeutet eben meistens, dass es für ca. 100 Prozent aller politischen Entscheidungen anscheinend völlig gleichgültig ist, welche Parteien an der Regierung sind, da sämtliche Entscheidungen sowieso auf der einen Seite mit dem Aufsichtsrat der Deutschland AG abgestimmt werden müssen (inkl. Arbeitnehmervertreter), andererseits sich nach demoskopischem Dummfragen und großbuchstabigen Zeitungen richten. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern zur Hälfte eine Metapher, liebe Freundinnen und Freunde, womit ich endlich im Duktus von Parteitagen angekommen bin, d. h. da, wo ich hinwollte.
Als eine Legislaturperiode in Großdeutschland noch tausend Jahre dauerte (und auch viele Sozialdemokraten verfolgt, eingesperrt, gefoltert oder ermordet wurden), reichte pro Jahr ein einziger Parteitag einer einzigen Partei. Den Unterschied zwischen heute und damals beschreibt die „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“ folgendermaßen: „Parteitage von demokratischen Parteien dienen im eigentlichen Sinne der politischen Willensbildung, die Reichsparteitage der Nat.Soz. waren hingegen reine Selbstinszenierungen und Machtdemonstrationen und dienten der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls.“
Diesen Unterschied abermals deutlich machend, tagte neulich die SPD. Am Rednerpult Otto Schily. Seine Umwertung des Nürnberger Trichters, der ehedem dazu da war, „die teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne behuf der lateinischen Sprache in VI Stunden einzugießen“, mündete in eine „sozialdemokratische Politikkunst, ohne behuf der theoretischen Gesellschaftsanalyse in sechs Stunden einzugießen“, nachdem er, Schily, an den berühmten Satz von Rosa Luxemburg erinnert hatte: „Law ist immer das Law des Orderen.“ Dafür verlieh ihm die „Nürnberger Mitte“, die neu gegründete, korrekt so genannte „Plattform“ mehrerer „SPD-Spitzenpolitiker“ die Gustav-Noske-Medaille. In Zukunft soll die Auszeichnung alljährlich im Sinne des Otto-Katalogs an den beliebtesten Denunzianten gehen. Von vorneherein disqualifiziert hat sich allerdings leider nun ausgerechnet Boris Becker. Wer Sätze sagt wie diese: „Wenn ich in die Augen meiner Fans blickte, dachte ich, ich sähe Monster. Als ich diese Art von blinder, emotionaler Hingabe sah, verstand ich, was uns in Nürnberg passiert war“, fällt raus.
Dann schaute die Welt nervös nach Rostock, auf den Parteitag der Grünen. Gott sei Dank ging nichts schief. Recht so: Man kann ja nicht dritt- oder viertgrößter Waffenexporteur der Welt sein und dann nicht mitmachen, wenn es ums Ganze geht. Ganz abgesehen davon aber war mir schon immer die Vorstellung unheimlich, dass es irgendeine Partei geben könnte, gegen die ich nichts hätte. Sehr einzelgängerisch, mein Demokratendasein.
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