stimme der kritik: betr.: Großmütter ins Internet
Napster war nur der Anfang
Sie schaut Vorabendserien, kauft einmal in der Woche für die ganze Familie im Supermarkt ein, und am liebsten trinkt sie Cola Light: Carla Conry führt das Leben einer ganz normalen amerikanischen Hausfrau. Doch wenn sie ihren Computer einschaltet, wird sie zu einer gemeingefährlichen Wirtschaftsterroristin – denn Carla Conry tauscht Strickmuster und Stickvorlagen über das Internet.
Gemeinsam mit einer Gruppe von Softwarepiratinnen ist Conry so zum Feind einer ganzen Branche geworden. „Es ist mir egal, ob diese Frauen Kinder oder Enkelkinder haben“, erklärt Jim Hedgepath, der Gründer des renommierten Handarbeits-Verlages Pegasus Originals: „Sie zerstören unser Unternehmen.“ Im vergangenen Jahr hatte ein Gruppe von Frauen unter dem Kampfnamen PatternPiggies begonnen, über das Internet Vorlagen für bestickte Taschentücher oder auch selbst geknüpfte Afghanenteppiche auszutauschen.
So wird die industrielle Revolution von ihren Kindern bzw. einer Gruppe digitalisierter Großmütter gefressen: Nachdem im 19. Jahrhundert die Einführung und Verbreitung der englischen Spinnmaschine „Spinning Jenny“ zu revolutionären Aufständen unter den Webern geführt hatte, stürmen jetzt die File-Sharing-Grannies mit ihren Tauschmaschinen das Internet – und verhelfen der vormodernen Heimarbeit nachträglich zu ihrem Recht. Verlage wie Pegasus Originals beklagen seitdem Umsatzeinbußen von bis zu 40 Prozent und drohen den PatternPiggies mit Prozessen. Und auch in Europa zittert man bereits in den Chefetagen der Verlage.
Downloading is killing Burda? Strickmustertauscherin Carla Conry ist sich keiner Schuld bewusst: „Ich tausche nur mit meinen Freundinnen und deren Freundinnen“, erklärte die sechsfache Mutter: „Warum sollte man sich unter Freunden nicht gegenseitig ein wenig unter die Arme greifen?“
Ein Gespenst geht um im Internet, Napster war nur der Anfang. Nur eine Idee musste leider vorübergehend auf Eis gelegt werden: Wegen der großen Nachfrage schloss die Porno-Tauschseite Leechnet unlängst ihre Datenkanäle. Das schwedische Unternehmen Nordic Release, das mit dem File-sharing-Angebot ins Netz gegangen war, sucht jetzt nach einem Käufer. Gerüchte, dass Bertelsmann die Leechnet-Seite kaufen will, wurden bisher allerdings noch nicht bestätigt. KOLJA MENSING
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