stefan kuzmany über Charts: „Hör mir bloß auf mit dem 11. September“
Jahresrückblick: 2001? Da war doch sonst noch was. Da musste doch was gewesen sein. Aber was?
IN Wir saßen mal wieder herum. In einer Kneipe. Tranken Bier, rauchten Zigaretten, aßen Schnitzel; was man so macht in einer Kneipe. Eigentlich wollten wir Rückschau halten auf das noch nicht ganz vergangene Jahr, doch Timo hatte sich als einziger ein Euro-Starter-Kit zugelegt und führte erst mal mächtig stolz seine neue Währung vor. Erntete aus der Runde aber nur Hohn und Spott: Die Münzen seien offenbar allesamt gefälscht. Als Prägedatum hatten sie, eine wie die andere, „2002“ eingestanzt.
2002? Das konnte doch gar nicht sein! Das war technisch nicht möglich! Ein Blick auf den Kalender bewies: Wir hatten doch immer noch 2001.
Nur Samir, unser Quotenaraber, widersprach heftig. Den hatten wir nach der Lektüre des Focus zur Verhinderung islamistischer Anschläge auf unser Stammlokal in unseren Kreis aufgenommen. In seinem Kalender stehe 14xx und wir seien ja mal wieder total westlich zentriert. In tiefer innerer Ruhe und im Vollbesitz aller relevanten Dokumente nippte er an seiner Cola.
Ich bekam es mit der Angst zu tun und versuchte zu integrieren, was noch zu integrieren war: Dann sei die Europrägung doch erst recht falsch. Au Backe. Die Situation eskalierte.
Die Europrägung: Eine dreiste, eine himmelschreiende, eine verdammte Lüge! Empörung! Tumult am Tisch.
Timo stieß beinahe sein Bierglas um! Setzte nochmal an und stieß es tatsächlich um!
Peter sagte: „Bis später“, griff nach der Jacke und verließ das Lokal. Jetzt ging das Geschrei richtig los!
Markus sah sich genötigt, lautstark über die ihm schon seit ihrer Verkündung höchst unsympathische Währungsreform zu schimpfen, aber es wollte ihm niemand zuhören, da jeder sich ereiferte und seinerseits Gehör suchte. Timo starrte weinerlich auf das für ihn nun völlig wertlose Eurohäufchen.
Nur Josef, schon immer der ruhigste, drehte bedächtig eine seiner langen schwarzen Rastalocken um den rechten Zeigefinger, sah die Zeternden mit einer Mischung aus Missbilligung und Vernunft an und sagte: „Gemach, Leute, gemach. Das Europrägungsdatum stimmt. Die Prägung bedeutet eben nur, ab wann die Münzen gültig sind.“
Sofort beruhigten sich alle. Timo nickte dankbar. Samir widmete sich arabischer Kalligrafie auf dem Bierdeckel. Markus bestellte weitere Biere. Josef zwirbelte weiter seine Rastalocken.
Aber irgendwie war auch die Luft raus. Ich versuchte es nochmal mit einem Jahresrückblick, schließlich musste ich noch einen Artikel darüber schreiben.
Niemand wollte darauf einsteigen. „Hör mir doch auf mit dem 11. September, ich kann es nicht mehr hören“, moserte Markus, nun schon deutlich angetrunken.
Ich: „Jetzt überlegt doch mal. Es muss doch außer dem 11. September auch noch etwas anderes passiert sein dieses Jahr.“
Betretenes Schweigen.
Timo legte seinen Kopf auf die Tischplatte und schien einzuschlafen. „Da war . . . nichts! Da war sonst nichts . . .“, murmelte er völlig ermattet. Wieder folgte eine lange Stille.
Hatte der 11. September in unserem Gedächtnis jedes andere Ereignis ausgelöscht? Da muss doch noch was anderes gewesen sein. Hatten die Terroristen gesiegt? Gab es nicht noch anderes, was es wert war sich zu merken? War das etwa alles gewesen? Sonst nichts? War’s das? Da muss, da muss, da war doch . . .
„Da war noch was!“
Timo rappelte sich wieder auf, gespannte Blicke auf ihn gerichtet. Er schien etwas sagen zu wollen, und tatsächlich, da platzte ein wesentliches Ereignis aus ihm heraus, ein Wort eigentlich nur, aber das eine Wort stand für viel und sagte alles: „Scharping!“
Das war’s. Das war 2001.
Die Runde löste sich schnell auf und jeder machte, dass er auf dem schnellsten Wege nach Hause kam, um sich dort für den Euro fit zu machen.
Fragen zu den Charts? kolumne@taz.de
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