standbild: Kunstkehrseite
„Verlassen im Namen der Freiheit“ (Fr., 22.25 Uhr, arte)
Es ist die Kehrseite der Revolte und des Abstreifens verstaubter Konventionen, die dieser Dokumentarfilm schildert: Eltern verwirklichen sich selbst, ihre Kinder treten eine Heimkarriere an. Der Aufschrei nach Freiheit, nach Entfaltung künstlerischer Begabungen, der Ausbruch aus miefigen familiären Pflichten – für die Gesellschaft ein wichtiger Fortschritt, für die Kinder der Aufbegehrenden ein fataler Schritt! Mannon Barbeau dokumentiert, wie jene Künstler heute leben, die 1948 im einengenden Quebec das Manifest „Refus Global“ (Globale Verweigerung) unterzeichneten und zu neuen Ufern aufbrachen.
Eigentlich eine spannende Geschichte. Doch Barbeau ist in doppelter – genauer gesagt: in eigener – Funktion unterwegs. Einerseits hat sie als Filmemacherin Interesse, die aufregende Entwicklung dieser Rebellion und der Folgen zu vermitteln. Andererseits betreibt sie, selbst Tochter eines der Unterzeichner des Manifests, des Malers Marcel Barbeau, Vergangenheitsaufarbeitung. Dies allerdings eher exzessiv als expressiv.
Die Folge: Den Künstlern, die damals das Land verließen, heute vielfach enttäuscht sind, weil sie ihre Ideale nicht verwirklichen konnten, begegnet sie im Interview meist mit vorwurfsvollem, bitterem Unterton. Kein Wunder, dass ihre Interviewpartner meist in depressivem Tonfall antworten. Eine Designerin berichtet etwa vom „Sich-Selbstverwirklichen-Müssen“, als rede sie von sonntäglichen Kirchgangs-Pflichten.
Einzig die Malerin Marcelle Ferron, jene fröhliche alte Dame, deren rebellischer Geist bis heute ungebrochen scheint, lässt sich durch moralinsaure Fragen nicht irritieren. Lustvoll schwadroniert sie über Liebesaffären. Eine der Töchter des Künstlers Paul-Emile Borduas widersetzt sich ebenso renitent der subtilen Aufforderung, sich vor laufender Kamera als ehemals verlassenes Kind zu gerieren. Große Künstler hätten der Kunst stets Vorrang vor ihrer Familie gegeben, bemerkt sie lapidar. Trotz solch erfrischender Szenen ist die Absicht der Filmemacherin, eine offene Rechnung mit ihrem Vater zu begleichen, nicht zu überhören. Die ebenso sturzbetroffene wie banale Botschaft des Films: Künstler sind potenzielle Kindervernachlässiger.
GITTA DÜPERTHAL
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