sozialkunde : Austragen und durchschlüpfen
Das Paradox der Schule: Sie erzieht mit Zwang zur Freiheit. Doch was ist, wenn die Freiheit nach der Schule nicht zu haben ist?
Es gibt nur wenige Orte, an denen die paradoxe Verankerung der wichtigsten Funktionen der Gesellschaft so spürbar ist wie in der Schule. Man hält die Schule nur aus, aus der Sicht der Lehrer wie der Schüler, wenn danach etwas kommt, was rechtfertigt, wie man vorher miteinander umgehen musste. Denn die Schule, so hat Immanuel Kant eine entsprechende Diskussion des späten 18. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht, unterwirft dem Zwang, um zur Freiheit zu erziehen. Wie ist das eine mit dem anderen zu vereinbaren? Hat man nicht bereits begriffen, was man in der Schule lernen kann, wenn man gegen sie rebelliert, also auf der eigenen Freiheit beharrt? Und ist man nicht auf alle Zeiten deformiert, wenn man sich diesem Zwang unterwirft, der sein eigenes Gegenteil will? Das 19. Jahrhundert setzt sich über diese Fragen hinweg und trifft die grandiose Entscheidung, erstmals in der Menschheitsgeschichte, Schule für alle zur Pflicht zu machen. Als sei ein Zwang keiner mehr, wenn er für alle gilt.
Den Sprung in den Glauben ermöglicht die romantische Idee der Bildung: Für jeden einzelnen Menschen käme es, so Humboldt im Anschluss an die christliche Mystik, darauf an, das, was der Mensch im Allgemeinen vermag, auch in seinem besonderen Fall zu verwirklichen. Die Erziehungsmaßnahmen der Gesellschaft sind nur der wohlwollende Geburtshelfer dieser Selbstverwirklichung des Menschen zum Menschen.
Wenn nach der Schule etwas kommt, was dieser Idee der Selbstverwirklichung nicht restlos widerspricht, lässt sich die Mystik aushalten, die die Paradoxie unsichtbar macht. Dann arbeitet man in der Schule im besten Sinne der Bloch’schen Hoffnung am Vorschein dessen, wozu jeder Einzelne berufen ist. Diese Semantik ist umso robuster, je leichter sie aus humanistischen in individualistische Erwartungen übersetzt werden kann und jeder Einzelne in sich nicht den Menschen, sondern nur noch sich selbst verwirklichen muss.
Aber wehe, es kommt nichts nach der Schule. Dann bricht dieses Gebäude der Entschärfung einer Paradoxie durch ihre Entfaltung in die Zeit (jetzt der Zwang, später die Freiheit) zusammen und man bekommt es mit der Widersprüchlichkeit des Ganzen jetzt und sofort zu tun. Deswegen ist das Verhalten der Hauptschüler an der Rütli-Schule in Neukölln und andernorts systemkonformer, als man denken sollte. Sie fordern jetzt, was ihnen für später versprochen wird, denn die Versprechen laufen ins Leere, wenn niemand von ihnen nach Schulabschluss eine Lehrstelle erhält. Sie widersetzen sich dem Zwang, weil sie begriffen haben, dass der Zwang sich nicht rechtfertigen lässt, wenn er nicht zum Freiheitsgewinn führt, den diese Gesellschaft zu bieten hat: der Möglichkeit einer Berufsausbildung, um Aussicht auf Arbeit und Einkommen zu erhalten, sodass man sich den einen oder anderen Wunsch erfüllen kann.
Und was tun die Lehrer? Was können sie tun? Praktisch sind sie über jede Schulstunde froh, die ohne größere Störungen über die Bühne ging. Zu Recht wird bereits dies gefeiert, löst es doch zumindest diese eine Stunde aus dem Kreislauf der sich selbst bestätigenden Selbstverwirklichung durch körperliche und verbale Kraftmeierei hier und jetzt. Aber zugleich müssen Lehrer an ihrer Absicht festhalten, den Schülern etwas beizubringen. Anders wäre nicht zu rechtfertigen, dass man jeden Tag aufs Neue versucht, den Schulbetrieb als solchen aufrechtzuerhalten und auszuhalten.
Und diese Absicht fällt auf. Sie fällt daran auf, dass Lernerfolge, seien sie noch so minimal, durch Zuwendung belohnt und abweichendes Verhalten, sei es noch so nachvollziehbar, durch Ablehnung bestraft wird. Kein Lehrer kann es sich leisten, von diesem Schema abzuweichen. Er würde die vielen Schüler entmutigen, die der Inszenierung der Schule nur als eine Art Publikum beiwohnen und hoffen, irgendwie durchzukommen. Für diese Dritten wird der Schulbetrieb aufrechterhalten. Auf ihnen ruht die Hoffnung der Lehrer, während sie sich hoffnungslos mit den Störenfrieden auseinander setzen. Und auf ihnen ruht der Neid der Störenfriede, während sie die Schule so ernst nehmen, wie sie es nicht verdient.
Die paradoxe Situation der Schule wird also paradox dadurch stabilisiert, dass die einen die Paradoxie austragen, während die anderen durchschlüpfen. Aber wenn man das weiß, hält man es als Lehrer auch wieder aus. Denn dann kann man auf die glücklichen Zufälle, die Entwicklung zum Besseren, den Aufschwung hinter der Talsohle setzen, die das Medium sind, in dem die eigene Arbeit belohnt wird. Und zwischendurch setzt man auf jene Momente, in denen ein Schüler vielleicht doch zu sehen bekommt, was ein Text ist, wie man mit einer mathematischen Gleichung umgeht und was es heißt, eine Frage stellen zu können, ohne gleich eine Antwort zu wissen. Das ist die dann ganz tautologische Lösung des Problems: Man muss den Betrieb der Schule bedienen, damit er verschmerzt werden kann. DIRK BAECKER