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Archiv-Artikel

schlechtes timing von RALF SOTSCHECK

Chris Cleave hat einen Roman geschrieben. Die Werbeplakate für das Erstlingswerk des 32-jährigen englischen Autors zeigen eine Luftaufnahme von London. Über der Stadt schwebt eine riesige Rauchwolke. „Incendiary“ handelt von acht Selbstmordattentätern, die einen Anschlag auf das vollbesetzte Fußballstadion des FC Arsenal London verüben. Tausend Menschen kommen dabei ums Leben.

Der Roman ist in Form eines offenen Briefes an Ussama Bin Laden verfasst. Absender ist eine Frau, die bei dem Attentat ihren Mann und ihren vierjährigen Sohn verloren hat. Sie glaubt, dass sie Bin Laden läutern kann, wenn es ihr gelingt, ihm verständlich zu machen, was Liebe ist. Der erste Satz des Buches heißt: „Lieber Ussama!“ Sie bittet den Al-Qaida-Chef, etwas Geduld mit ihr zu haben: „Ich bin keine große Schreiberin.“ Das Problem sind aber keine handwerklichen Mängel, sondern der Erscheinungstag: Es war der 7. Juli – der Tag, an dem Selbstmordattentäter in London drei U-Bahnen sowie einen Bus sprengten und 56 Menschen umbrachten.

Cleave beschreibt in seinem Buch die Zeit nach den Anschlägen recht prophetisch: Racheakte gegen Muslime, der Aufmarsch des Polizeistaats, geschlossene Flughäfen, rund um die Uhr geöffnete Baumärkte, damit sich die Menschen Antiterrorbunker bauen können. Und an der Spitze der Hitparade steht Elton Johns Lied „England’s Heart Is Bleeding“. Letzteres blieb den Londoner zum Glück erspart. Alles andere, vor allem das Loblied auf die Widerstandsfähigkeit der Londoner, stand nach dem 7. Juli genau so in den Zeitungen.

Schlechtes Timing, könnte man meinen, aber der „makabre und furchtbare Zufall“, wie Cleave es bezeichnete, hat dem Buch eine Menge Aufmerksamkeit beschert. Das ist dem Autor nun peinlich. Auf seiner Website fragt er die Leser, ob sie glauben, dass sich die Angehörigen der Opfer von seinem Buch beleidigt fühlen könnten. Ein Arsenal-Fan beschwerte sich wütend, dass das Buch als Vorlage für einen Anschlag auf seinen Lieblingsverein dienen könnte. Hätte er lieber den Schickimicki-Club Chelsea gewählt. Cleaves Haareraufen ob des Zufalls ist heuchlerisch, denn das Buch ist ja weiterhin auf dem Markt, die Rechte sind in 15 Länder verkauft, und später soll der Stoff verfilmt werden. Warum auch nicht? Der Eiertanz darum, was man nach den Anschlägen noch zeigen darf, hat groteske Züge. Bei der Buchladenkette Waterstone’s war man gleich nach den Anschlägen hektisch damit beschäftigt, die Werbeplakate von den Schaufenstern zu kratzen und die Anzeigen in den Tageszeitungen für den nächsten Tag zu stornieren. In den U-Bahnen hingen die Plakate aber bereits. Und auch für den Guardian war es zu spät, die Anzeige war bereits im Druck. Das Blatt entschuldigte sich bei den Opfern und erklärte, man habe dem Buchverlag das Geld für die Annonce zurückgeschickt.

Die BBC verschob eine Episode einer Krimiserie, weil sich darin ein Entführer selbst in die Luft sprengt. Sie wurde ein paar Tage später ausgestrahlt. Nahm die BBC an, dass bis dahin Gras über die Sache gewachsen sein würde? Oder sind Massaker im Fernsehen okay, solange sie nicht von islamischen Terroristen angerichtet werden?