piwik no script img

schlaglochUnsichtbar im Rampenlicht

Warum wird „Roma“ so gepriesen? Über die Depolitisierung der Kunst

Ilija Trojanow ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Im Jahr 2017 erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.

Die Schlagloch-Vorschau:

15. 1. Charlotte Wiedemann

22. 1. Jagoda Marinić

29. 1. Hilal Sezgin

5. 2. Mathias Greffrath

12. 2. Georg Seeßlen

19. 2. Nora Bossong

Selten ist ein Film so gepriesen worden. Seitdem „Roma“ den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen hat, wechseln sich euphorische Rezensionen mit Auszeichnungen ab, zuletzt bei den Golden Globe Awards. Auf der Webseite metacritic.com, die alle englischsprachigen Kritiken auswertet, kommt der Film des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón auf erstaunliche 96 (von 100) Punkten. Fast alle sind also der Ansicht, dies sei ein Meisterwerk. Und zudem gesellschaftlich relevant. „Obwohl es im Film nicht direkt um die politischen oder sozialen Fragen der Zeit geht“, verkündet das Time Magazine, „sickern sie, manchmal subtil und manchmal dramatisch, unverkennbar in die Erzählung ein.“ Aber stimmt das?

Im Mittelpunkt steht eine Hausangestellte namens Cleo, eine Indígena, die mit der anderen Haushälterin, einer dunkelhäutigen Frau in einer wohlhabenden hellhäutigen Familie, Mixtec spricht. In Mega-Citys wie Ciudad de México trifft der globale Norden häufig auf den globalen Süden, manchmal in ein und demselben Haus. Cleo stammt aus einem unbekannten Dorf, ihr Arbeitgeber fliegt zu einer Konferenz nach Ottawa; sie ist Analphabetin, das geräumige Wohnzimmer der Familie steht voller Bücherregale. Früher hieß dieser Topos upstairs/downstairs, und in einer Szene des Films steigt Cleo tatsächlich in den Keller eines Landhauses, wo sämtliche Angestellten Neujahr feiern, dichtgedrängt und mit billigem Schnaps, ganz anders als die Extravaganz oben im ersten Stock.

Cleo ist eine gute, brave, hingebungsvolle Dienerin. Die Kinder sagen „Wir lieben dich“ zu ihr, sie erwidert diese Liebe, dann soll sie einen Smoothie bringen. Trotz solcher Widersprüche ist das Einfamilienhaus im Stadtteil Roma eine Oase. Immer dann, wenn es hinausgeht in die große weite Welt, drohen hingegen Gefahren. Nirgendwo wird angedeutet, es könnte umgekehrt sein. Laut Angaben der mexikanischen Statistikbehörde haben im Jahr 2016 von den mehr als 2,3 Millionen Menschen, die als Hausangestellte arbeiten, sage und schreibe 97,6 Prozent Verletzungen ihrer Rechte erfahren, zu lange Arbeitszeiten etwa oder zu niedrige Löhne.

Diese Familie gehört wohl zu den seltenen Ausnahmen. Aber wenn dem so ist, wenn Alfonso Cuarón diesen Film sogar seinem einstigen Kindermädchen widmet, wieso erfahren wir fast nichts über sie? Weder über ihre Herkunft und ihre Familie noch über ihre Ankunft in der großen Metropole. Mehr als zwei Stunden lang begleiten wir sie und doch bleibt sie uns seltsam fremd. Selten sagt Cleo etwas, das uns Einblick in ihre Lage gibt, etwa wenn sie mit dem jüngsten Sohn so tut, als wären sie tot: „Ich mag es, tot zu sein.“

Beim Abwasch sagt die andere Haushälterin zu ihr: „Ich habe gehört, die Regierung ist ins Dorf gekommen und hat deiner Mutter ihr Land weggenommen.“ Die Antwort Cleos: „Wie soll ich ihr helfen?“ Und das Thema wird wieder fallengelassen. Auf dem Land, als Cleo mit den Kindern durch die Felder zieht, behauptet sie, das erinnere sie an ihr Dorf, der Geruch, die Geräusche … nur zeigt uns die Kamera kein Dorf, sondern eine Gruppe von tollenden Wohlstandskindern auf freiem Feld. Diese behauptete Erinnerung evoziert nichts. Wenn ein Film die Unsichtbaren in den Mittelpunkt rückt, ist es problematisch, wenn diese trotz des auf sie gerichteten Scheinwerferlichts unsichtbar bleiben.

Ähnlich verhält es sich mit den historischen Umbrüchen im Hintergrund. Sie erfolgen so unerwartet apokalyptisch wie das Erdbeben zu Beginn des Films. Der Film stellt ein berüchtigtes Massaker dar, bekannt als El Halconazo wegen der Mitwirkung einer paramilitärischen Gruppe namens Los Halcones, bei dem 1971 120 Protestierende umgebracht wurden. Die Halcones (die Falken) waren junge Männer aus armen Stadtvierteln, die nicht nur mit Bambusstöcken Kampftechniken trainierten, sondern sich auch als Studenten ausgaben, um den Campus zu infiltrieren und Gewalt zu provozieren, damit Polizei und Militär die Proteste brutal niederschlagen konnten.

Wie in einem Melodram üblich, siedelt „Roma“ eine tragische Liebesgeschichte in diesem politischen Kontext an. Der Mann, mit dem Cleo eine kurze Affäre hat, gehört zu den Falken, er schwängert sie und verlässt sie sofort. Just an dem Tag, an dem sie mit der Großmutter des Hauses im Möbelhaus eine Wiege für ihr Kind aussuchen will, beginnt das Massaker. Studenten flüchten in das Geschäft, die Halcones stürmen hinterher, darunter Fermin, der eine Pistole auf Cleo richtet, worauf ihre Fruchtblase platzt und ihr Kind im Krankenhaus als Frühgeburt tot auf die Welt kommt.

Die Darstellung der Totgeburt ist bewegend, aber als Tragödie des Zufalls wenig plausibel; die historischen Fakten zeichnen eine dringlichere Tragödie: Die verwundeten Studenten wurden in ein Hospital gebracht, die Halcones hinterher, um sie vor den entsetzten Augen des Krankenhauspersonals zu erschießen.

Politische Zusammenhänge werden in Nebensätzen versteckt, die sich nur den Kundigen erschließen

Über die Gründe für die Studentenproteste erfahren wir nichts. Es sei denn, man liest nachher Interviews mit dem Regisseur, in denen er zum Beispiel erwähnt, wie ihm als Zehnjähriger Diskussionen mit einem „kommunistischen Onkel“ die Augen geöffnet hätten, da der Rest der Familie „rechts“ und somit gegen die Studenten gewesen sei. Nichts davon ist im Film enthalten. Politische Zusammenhänge werden in Nebensätzen versteckt, die sich nur den Kundigen erschließen.

„Roma“ ist mehr als ein überschätztes Kunstwerk, es ist repräsentativ für eine partielle Blindheit des globalen Nordens. Die nostalgische Grundstimmung und die schwerfällige Ästhetisierung sind Ausdruck einer imperialen Sehweise, die den Blick auf die Brutalitäten der Realität verstellt. Erst solch eine Wahrnehmung würde Empathie ermöglichen; das Verklären und Verwischen trägt dazu bei, dass sich nichts ändert im Haus der Bedienten und Bedienenden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen