piwik no script img

Archiv-Artikel

schlaflosigkeit von EUGEN EGNER

Anni litt seit Jahren an Schlaflosigkeit. Fast jede Nacht lief sie rauchend im Garten herum, saß stundenlang in der Küche oder im Wohnzimmer und wartete darauf, dass sie müde wurde. In einer solchen Nacht stieg sie aus verzweifelter Langeweile sogar die Treppe zur leer stehenden oberen Wohnung hinauf, obwohl es eigentlich wenig Sinn hatte, sich diese Mühe zu machen, nur um dann vor der verschlossenen Tür wieder umzukehren.

Gleichgültig nahm Anni eine Stufe nach der anderen, bis sie gähnend oben ankam. Sie wollte sich soeben für eine Weile auf dem Treppenabsatz niederlassen, bevor sie wieder hinunterging, um ihre Runden im Garten zu drehen, als ihr etwas ganz Unwahrscheinliches auffiel: Ein Schlüssel steckte von außen im Schloss – rätselhaft, woher der kommen mochte. Ihres Wissens besaß niemand außer dem Hauseigentümer selbst einen Schlüssel für diese Wohnung, was also heißen musste, dass der Mann hergekommen war, um die Räume wie auch immer zu nutzen.

Diese Absicht hätte er aber, Eigentümer oder nicht, ruhig vorher ankündigen können, fand Anni. Es war doch keine Art und Weise, sich heimlich wie ein Einbrecher bei Nacht und Nebel verstohlen ins Haus zu schleichen. Wann mochte er wohl gekommen sein? Im Parterre war kein Ton von oben zu hören gewesen. Und weshalb sollte er den Schlüssel von außen stecken lassen, wenn er in der Wohnung war? Vielleicht war er schon wieder fort und hatte den Schlüssel in der Tür vergessen?

Eine Zeit lang verhielt Anni sich ganz still und lauschte. Doch da rührte sich absolut nichts, also öffnete sie leise die Tür und trat ein. Im nächsten Moment sah sie sich etwas gegenüber, das ihr unwillkürlich einen Ausruf der Überraschung abpresste. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie in der Diele, den Kopf fassungslos nach allen Seiten drehend.

Wände und Decken waren über und über mit etwas bedeckt, das aussah, als hätte ein Wahnsinniger mit einem schwarzen Stift in engen, regelmäßigen Abständen Millionen sehr kurzer Striche auf den nackten Putz gemacht. Anni konnte sich eine derartige Arbeitsleistung nicht erklären und wischte zweifelnd mit dem Finger über einige Striche. Sie ließen sich nicht verwischen, und wie Anni erkannte, handelte es sich bei ihnen nicht um Spuren, die ein Stift hinterlassen hatte, sondern eher um etwas wie eine Projektion, wobei ihr deren Zustandekommen in technischer Hinsicht völlig unerklärlich schien.

Anni fragte sich, ob es eine elektronisch generierte Installation, ein modernes Kunstwerk, sein konnte. War es möglich, dass der Hauseigentümer (oder ein von ihm geförderter Künstler) die Wohnung nutzte, um diese raffinierten Lichtspielereien hier zu erproben, bevor sie der Öffentlichkeit präsentiert wurden? Nach ein paar Minuten fiel ihr etwas auf: Das Strichmuster bewegte sich, es wanderte sehr langsam über Wand und Decke hinweg.

„Das wird ja immer schöner hier!“, rief Anni unwillig aus, lief hinaus, schloss ab und vergrub den Schlüssel tief in der Erde des Gartens. Da irrte sie dann so lange rauchend herum, bis die Insekten sie zum Schlafen in ihr großes Nest holten.