piwik no script img

robin alexander über schicksalWohnungsbaukredite sind wasserfest

Nach der Wende bauten sich Annas Eltern ihr eigenes Haus. Zwölf Jahre verzichteten sie auf Leben. Jetzt ist die Flut da

Die Flut hat mir Heiko in die Küche gespült. Er ist spontan vorbeigekommen – und allein. Da war schon klar: Es gibt ein Problem. Heiko ist einer der Männer, die nie etwas ohne ihre Freundinnen unternehmen. In den vergangenen drei Jahren habe ich Heiko höchstens einmal ohne Anna gesehen.

„Wo ist sie?“

„An der Front.“

Dabei grinst er schräg. Seine Anna, 29-jährig, hat vor einer Woche die wuseligen Arbeits-, Freizeit- und Mischaktivitäten, die ihre Berliner Existenz ausmachen, eingestellt und nur noch Flut geguckt. Zuerst Prag. Dann Usti. Als das Wasser die Grenze nach Deutschland überschritt, war Anna schon im Zug. Noch waren die Elbbrücken nicht gesperrt. Noch konnte Anna in den mittelgroßen Garnichtsort fahren, der auf die Flut wartet.

„Dort ist Anna zu Hause?“

„Nein, ihre Eltern haben da ein Haus“, sagt Heiko. Wie Anna ist er in der DDR aufgewachsen und erklärt mir den feinen Unterschied zwischen „ein Haus haben“ und „ein Zuhause haben“.

Annas Eltern haben unglaublich schnell nach der Wende „gebaut“. Als die einen noch im Konsumrausch waren und die anderen begannen um ihre Arbeitsplätze zu fürchten, informierten sich Annas Eltern schon über Finanzierungsmöglichkeiten.

Sie war 16, als die Mauer fiel, und erlebte Freiheit als konkretes Gefühl: Jetzt ist in meinem Leben alles möglich. Dass ihr Vater diese Situation dazu nutzte, sich in neue Bindungen zu schlagen, fand sie schnell absurd. Die Dimension der Gewalt, mit der das kreditfinanzierte zweistöckige Haus mit Doppelgarage ihr Leben einschränken würde, hat sie anfangs noch nicht gesehen.

Annas Vater hatte die DDR perfekt nachgebaut. En miniature, mit Liebe zum Detail: Reisen? Dafür war kein Geld mehr da. Die neuen Zeitschriften und Bücher lesen? Jede freie Minute steckten die Eltern in Dachrinnenschrauben, Gartenpflanzen, Garagenanfahrtpflastern. In der großen DDR ging man noch ab und an ins Theater. Da kostete die billigste Karte auch noch keine 18 Mark. Diktatoren legitimieren ihre Herrschaft immer mit der Macht des Faktischen. Schulden sind sehr mächtige Fakten.

Heiko und ich gucken Flutfernsehen. Das Wasser kommt näher: Erzgebirge. Pirna. Dresden. Riesa. Noch ist das Wasser nicht bei Anna, denn die kleine DDR ihrer Eltern liegt in Sachsen-Anhalt. Die Reporter zeigen, wie Menschen in Uniformen und Menschen in normaler Kleidung Sandsäcke in einer Menschenkette weiterreichen. Die Leute dort haben etwas zu verlieren. Nicht nur Annas Eltern haben ein Haus gebaut. Viele junge Leute sind in diesen Ketten.

Es ist noch früh am Abend, aber der Wodka ist schon aus dem Eisfach. Mein Freund erzählt, wie das verdammte Haus alles fraß. Zu Ostzeiten bekamen Studenten vom Staat Wohnheimplätze und von den Eltern regelmäßig eine dicke Salami, damit sie nicht vom Fleisch fielen. Anna arbeitete, um ihre Eltern nicht um Unterstützung bitten zu müssen. Selbst das Kindergeld wurde ins Haus gesteckt. Ihre Mutter kannte bald niemanden mehr, der wie sie Deutschland noch nie verlassen hat. Heiko sagt, in der echten DDR konnte man hoffen, dass sich die Zeiten wandeln. Kredite aber haben eine feste Laufzeit.

Anna lebte nur ein halbes Jahr in diesem Haus, dem sich jetzt die Fluten nähern. Aber sie hat immer mitgelitten: als Mutter und Vater nicht mehr mit sich und den Schulden konnten. Der Vater auszog, „seinen Teil“ der Möbel mitnahm und die Mutter im halbleeren Haus zurückließ. Sie haben sich rasch wieder zusammengerauft. Nach der Scheidung hätte das Haus endgültig der Bank gehört.

Die Flut ist bei Bitterfeld, sagt die Glotze. Das liegt schon in Sachsen-Anhalt. Ob Anna auch an so einem Deich steht? Annas Schwester lebt auch im Flutgebiet. Anders als die Jugendlichen, die RTL auf dem Deich zeigt, anders als Heikos Anna behauptete ihre Schwester, ihr sei es völlig egal, ob ihre Eltern morgen im Wasser, übermorgen im Schlamm und dann in der Pleite stehen. Sie hat die Rollos runtergelassen, raucht Joints mit ihrem Freund und guckt nicht Flutfernsehen, sondern Videos.

Die Kleine macht’s richtig, meint Heiko und flucht auf seine Anna, die sich nicht freimachen kann vom eingemauerten Leben ihrer Eltern. Er schimpft auch so heftig, weil er Schuldgefühle hat. Hätte er sie nicht begleiten sollen? Ich tröste mit Fatalismus: „Das Wasser kommt auf jeden Fall.“ Vielleicht morgen Früh. Vielleicht in dieser Nacht. Vielleicht noch, während wir reden. Aber es hilft ja nichts, Junge. Kredite sind wetterfest.

Fragen zu Schicksal? kolumne@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen