robin alexander über Schicksale : Generation Ischias
Claudia Nitsche, Physiotherapeutin: Das Schicksal der Sterblichen liest sie aus der Lendenwirbelsäule
Die Erkenntnis kam spät, doch dann in vollster Klarheit: Ich saß vor einer mythischen Gestalt, die Zukunft sieht und Unheil kündet. Eine, deren Spruch man nicht entrinnen kann. Frauen wie sie nannten die Germanen „Nornen“ und raunten sich zu: Am Fuß der Weltesche Yggdrasil könne der Sterbliche den Schicksalsschwestern Urd, Werdani und Skuld entgegentreten. Heute heißen sie Claudia Nitsche und betreiben eine Physiotherapie. Das Schicksal der Sterblichen lesen sie bevorzugt aus der Lendenwirbelsäule.
„Mit Ihrem Rücken werden Sie noch viel Freude haben.“ Die Vertreterin der Mächte des Schicksals beliebte zu scherzen. Ein Zwacken eine Handbreit rechts über dem Steiß war mir im vergangenen Herbst treuer Begleiter geworden. Aber ein Mann mit Aufgaben kann auf so etwas natürlich keine Rücksicht nehmen. Hinweise aus meiner Umgebung, eine aufrechte Haltung sehe anders aus und mein eigentlich fester Gang verwandle sich zunehmend in ein Schlurfen, ignorierte ich lange. Die wenigen Stufen zur Physiotherapie Nitsche erklomm ich kurz nach Neujahr beinahe auf allen vieren. Frau Nitsche verordnete Gymnastik. Wer damit Grazie und Anmut verbindet und an schlanke Mädchen mit Bändern und Reifen denkt, der irrt. Die Gymnastik eines Rückenkranken gleicht vielmehr einem entwürdigenden Winden auf einem großen, grünen Hopsball und einer Matte aus Hartgummi. Bauchmuskeln anspannen. „Kontraktion, junger Mann, Kontraktion!“ Rückenmuskeln anspannen. „Kneifen Sie schon den Hintern zusammen.“ Sadismus war es nicht, was Frau Nitsche trieb, sie ist ja kein Wesen von dieser Welt. Ihre Rede war von kosmischer Klarheit, irdische Anliegen wie Motivation oder Mutmachen sind den Unsterblichen fremd: „Ein bisschen Training ändert Ihren verkorksten Körperbau noch nicht!“
Die folgende Aufzählung meiner körperlichen Unzulänglichkeiten verdampfte mein bis dahin zufriedenes bis narzisstisches Selbstbild in Sekunden. Besonders hart traf mich, der eigene Verursacher meines Leidens zu sein. Die Defekte meines Körpers sind nämlich nur in Ansätzen genetisch bedingt: „Ihr Rücken ist geradezu widernatürlich lang. Ihre Beine sind im Vergleich zu kurz.“ Meine Herkunft ist ebenfalls verantwortlich. Dazu muss man wissen, dass meine Kindheit und Jugend sich in einem sozialdemokratisch geprägten Landstrich der BRD in den 80ern ereigneten. Bis in die staatlichen Lehranstalten des Ruhrgebiets war damals die antiautoritäre Welle geschwappt. Mein Zipperlein ereilte mich hingegen in Leipzig, vormals Deutsche Demokratische Republik, heute Osten, wo man zur Autorität stets ein gänzlich ungebrochenes Verhältnis hatte. Gerade in der Physiotherapie Schmitz: „Ihnen ist wohl in der Schule nicht beigebracht worden, wie man gerade auf einem Stuhl sitzt.“
Nach kurzer, nichtsdestotrotz eingehender Erfragung meiner Lebensumstände musste ich einen Löwenanteil an Schuld selbst auf mich nehmen: „Sie arbeiten am Schreibtisch: ganz schlecht.“ Ein Job, bei dem man „stehen und gehen“ kann, sei ideal für mich. Als Ausgleichssport müsse ich mich „vor allem gleitend“ bewegen. Mitfühlenden Lesern danke ich im Voraus, bitte jedoch nachdrücklich, davon abzusehen, mir jetzt Angebote für Arbeitsstellen als Schülerlotse und Ferienkurse in Wasserski zuzuschicken.
Jetzt erhob ich mich nämlich aus gekrümmter Beuge auf Augenhöhe meiner allwissend scheinenden Therapeutin und schwang mich vom grünen Hopsball zum Protest auf: „Ein Weib, dessen Rücken ich nach dem meinigen am besten kenne, klagt ebenfalls, und zwar herzzerreißend, über einen verschobenen Wirbel. Ihr Körper aber hat die ausgewogensten Proportionen und sehr lange Beine! Kinderkrippen, Pioniere und FDJ haben ihr das Geradesitzen, Geradestehen und Geradeliegen in Fleisch und Blut übergehen lassen. Bei der ‚Betriebssportgemeinschaft Halloren Halle‘ war sie Torfrau und zweiter DDR-Jugendmeister im Handball. Gymnastische Übungen macht sie auch heute noch – täglich und mit Freude. Ihre Bauchmuskeln könnten ein Stahlkorsett sprengen!“
Physiotherapeutin Nitsche zog die austrainierten Augenbrauen hoch. „Nun gut“, sagte sie leise und böse. „Schaut euch doch an, ihr unter 30-Jährigen von heute. Als Kinder hat man euch so gut gefüttert, dass ihr jetzt alle 1,85 Meter messt. Aber mehr als 34 Wirbel habt auch ihr nicht. Und dann glaubt ihr noch, euer Leben mit Karriere und eure wenige Freizeit am Laptop verbringen zu müssen. Haltungsschäden kommen aber schneller als Erfolg. Ihr leidet schon an professionellen Deformationen in einem Alter, als eure Väter noch nicht mal ihr Studium beendet hatten!“ Wer sein Schicksal dergestalt geschaut hat, ist für Hoffnung oder gar Optimismus unrettbar verloren. Die düstere Norne aus der Physiotherapie öffnete mir die Augen: Wer heute jung und aufstrebend aufbricht, wird morgen gekrümmt und schmerzerfüllt heimkehren. Willkommen in der Selbsthilfegruppe „Junge Bandscheibe“, Leidensgenossen! Willkommen in der Generation Ischias!
Fragen zu Schicksalen?kolumne@taz.de
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