robin alexander über Schicksal : Eine Hochzeitsgeschichte
Meine Schwester will echte Tränen und kriegt Schalke 04
Keine Sorge, das soll keine Fußballgeschichte werden. Im Gegenteil. Fußballgeschichten handeln von irgendeiner „großen Liebe“ eines Mannes mit kindlichem Gemüt zu irgendeinem blöden Club. Hier aber soll es um echte große Liebe gehen. Die Hauptrolle spielt eine Frau. Und sogar eine Hochzeit soll in dieser Geschichte vorkommen. Leider auch ein überforderter junger Mann. Der bin ich.
„Du musst dafür sorgen, dass kein Mist passiert. Du wirst jeden Unfug im Keim ersticken. Hörst du? Ich mache dich persönlich verantwortlich!“, in diesem Ton redet meine Schwester am Telefon nicht häufig mit mir. Es sind noch vier Wochen bis zu ihrer Hochzeit, und ihre Angst kann man hören. Dafür ist sie eigentlich nicht der Typ. Hegt sie vielleicht doch späte Zweifel à la: Habe ich wirklich den Richtigen gefunden? Raubt eine Ehe mir meine Freiheiten? Trägt man in diesem Sommer wirklich weiß? Ach was! Meine Schwester weiß immer, was sie will: Mit Job, Freund und Freunden steht sie so was von mitten im Leben, dass Angela Merkel neben ihr wie eine Extremistin wirken würde. Meine Schwester hatte noch nie Angst vor der eigenen Courage. Sie ist sogar mutig genug, den Familiennamen ihres Zukünftigen anzunehmen, obwohl sie in einer akademischen Umgebung arbeitet. Was also fürchtet die Furchtlose? Sie wird am ersten Samstag im August getraut. Ein schöner Termin für eine Hochzeit. Und zufällig der erste Spieltag der neuen Bundesligasaison. Das ist das Problem. Meine Familie ist – vorsichtig ausgedrückt – fußballinteressiert.
Mein Vater besitzt einen Wecker, der morgens ruft: „Steh auf, wenn du Schalker bist!“ Ich hatte übrigens auch so einen – bis ich mit meiner Freundin zusammenzog. Die Kicker-Steck-Tabelle hängt in unserer Wohnung in einem toten Winkel, bei meiner Schwester und ihrem Gatten in spe hingegen an der Küchenpinnwand. Bis jetzt hat meine Schwester von der Schalke-Begeisterung immer profitiert: Ihre Eltern und die Eltern ihres Freundes konnten sich ganz zwanglos kennen lernen – beim Gucken der Auswärtsspiele auf Premiere. Längst haben alle ihre Jahreskarten nebeneinander.
„Schön und gut“, sagt meine Schwester. „Aber ich will auf keinen Fall, dass auf der Hochzeit das Wort Schalke fällt!“ Wem diese Angst jetzt absurd erscheint, der hatte keinen Lehrer, der seinen Biokurs sehr sensibel über Sexualität, Schwangerschaft, Geburt und Kindesentwicklung so aufklärte: „Manche Babys sprechen zuerst das Wort Mama, andere sagen zuerst Papa.“ Nach einer kurzen Pause: „Mein Neffe hat zuerst Abramczik gesagt.“
Wer die Furcht meiner Schwester absurd findet, hat wahrscheinlich auch noch nie so eine Lautsprecherdurchsage im Stadion gehört: „Wir gratulieren Herrn Sawatski aus Gelsenkirchen-Bismarck. Er ist gerade Vater einer Tochter geworden.“ Und den Antwortruf aus tausend Kehlen: „Wir werden immer mehr. Halleluja.“ Nun besteht unsere Familie nicht aus Fußballproleten: Der zukünftige Schwiegervater meiner Schwester ist sogar Pastor. Ihn laden Gemeinden aus dem halben Ruhrgebiet ein, weil er dafür bekannt ist, das Evangelium sehr politisch auszulegen. Er bezieht die Predigttexte auf den Irakkrieg oder die Agenda 2010 – manchmal allerdings auch auf den späten Ausgleichstreffer vom Vortag.
Schalke 04 hat nicht wirklich etwas mit Fußball zu tun. Es geht nicht um Sport, sondern um Identität. Schalke ist im Ruhrgebiet das, was in Ostberlin einmal die PDS war und in Bayern vielleicht der Dialekt ist. Es gibt viel schlimmere Identitäten: Man kann sich auch über eine bestimmte politische Haltung definieren oder seine Essgewohnheiten. Mit meiner Schwester bin ich der Meinung: Besser Schalke als Vegetarismus.
Vegetarier müssen auf Fleisch verzichten. Schalker müssen gar nichts. Es ist eine virtuelle Identität, darum funktioniert sie bei uns so gut: Wir sind nicht alle Akademiker zu Hause. Wir sind nicht alle verheiratet. Wir sind nicht alle katholisch. Wir sind nicht alle wohlhabend. Wir sind nicht alle links. Aber wir sind alle Schalker. Schalke hilft gegen die Leere. Wir haben Gesprächsstoff, ohne dass wir uns Gedanken machen müssen. Wir feiern Siege ohne Anstrengungen und Niederlagen ohne reale Verluste. Als Kind habe ich Männer weinen sehen im sicheren Wissen, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen war. An ihrem Hochzeitstag will meine Schwester aber richtiges Leben. Echte Freude. Echte Tränen. Ihr Hochzeitstag soll ein voller Tag sein.
Ich habe verstanden: Ich werde vor der Hochzeitsmesse durch die Reihen gehen und Miniradios einsammeln. Ich werde dem Organisten sagen, dass das Brautpaar ganz bestimmt nicht zu „Blau und weiß, wie lieb ich dich“ aus der Kirche ausziehen will. Ich bin auf der Seite meiner Schwester. Das Schicksal ist es nicht. Vor wenigen Tagen hat der DFB den Spielplan für die neue Saison veröffentlicht. Schalke beginnt mit einem Heimspiel – gegen Borussia Dortmund. Mein Vater hat gescherzt: „Wenn alle Gäste ihre Jahreskarten für diesen Tag verkaufen, haben wir die Hälfte der Kosten für die Hochzeit wieder drin.“ Er hat den Ernst der Lage nicht verstanden.
Wer braucht 6 Karten S 04-BVB?kolumne@taz.de