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Archiv-Artikel

robin alexander über Schicksal „Ich!!!“ und die gute, alte Verteilungsfrage

Die Leute lassen sich eine Menge einfallen, wenn es etwas zu holen gibt. Jetzt muss meine arme Schwester entscheiden

Den kürzesten Leserbrief in der Geschichte des Journalismus bekam ich vor zwei Wochen. Er besteht nur aus drei Buchstaben. Sebastian B. aus Bremen schrieb mir auf elektronischem Weg folgenden Brief, den ich hier vollständig zitiere: „ICH!!!“

So viele Zuschriften wie noch nie erreichten mich nach meinem vorherigen Beitrag an dieser Stelle. Worum ging es? Um Hochzeit, Familie und Identitäten. Meine Schwester heiratet zeitgleich mit der Austragung des Fußballspiels FC Schalke 04 gegen Borussia Dortmund und meine Familie kann deshalb ihre Dauerkarten für die Schalker Arena nicht nutzen. Die Zuschriften zu dieser Kolumne lassen sich grob in folgende Kategorien einteilen:

Kommentare zur Hochzeit: 0

Anmerkungen zur Familie: 0

Kritik: 0

Freundliches Lob: 1

Kartenwünsche: 34

Meine Familie besteht nicht aus 34 Personen. Ich habe also nicht genug Karten. Damit stellt sich die gute, alte Verteilungsfrage. Wer bekommt das knappe Gut? Die Schnellsten? Einige Leser wollten unbedingt die ersten Interessenten sein. Sie schrieben deshalb per E-Mail und fassten sich kurz, um keine Zeit zu verlieren. Einige nahmen sich nicht einmal die Zeit, Worte auszuschreiben.: „…, würd ich mind. 4 nehmen …

Ein Kollege riet mir, Geldangebote anzunehmen und in Preisverhandlungen einzutreten. Aber wir sind doch hier nicht auf dem Basar! Soll ich vielleicht Treue belohnen? Richard K. schrieb mir schon manchen klugen Brief. Allerdings hat er einmal zugegeben in Dortmund zu leben. Deshalb druckst er nun etwas herum: „Jetzt, nachdem mir eingefallen ist, dass ein Cousin von mir, der auf dem Lande irgendwo am Edersee seit langer Zeit darauf wartet, für sich und ein paar Freunde Karten für S04 zu bekommen, …“

Mich überzeugt der weiblich-integrative Ansatz in der Zuschrift der geschätzten Leserin Jenny G.: „ … Als zukünftige Frau eines fanatischen S04-anhängenden Diplom-Theologen aus Gelsenkirchen kann ich die Sorgen und Ängste Deiner Schwester bezüglich ihrer Hochzeit vollkommen verstehen, befinde ich mich doch in ähnlicher Situation …, soll doch bei uns der Ort des Geschehens auch noch die Arena sein (da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!)“ Charmant das Thema des Textes aufgenommen, seine Authentizität bestätigt und ganz am Ende des Textes beiläufig gefragt: „Da ich meinen Freund trotzdem liebhabe und ihm gerne eine Freude machen würde, fände ich es ausgesprochen schön, 2 eurer Karten S04 – BVB ergattern zu können.“ Um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, hat sie die Mail gleich sechsmal geschickt.

Jörg B. macht hingegen auf Männerbund: „Wenn wir gedient hätten, also richtig gedient hätten, mit Waffen und Uniformen und so, dann wären wir Waffenbrüder und ein Korpsgeist würde dafür sprechen, dass Du mir als Deinem Kameraden die Karten gibst. Jetzt haben wir beide den Kriegsdienst verweigert … Das zeigt doch, dass ich kein grundauf schlechter Kerl sein kann, Du kannst mir seelenruhig die Dauerkarten Deiner Familie anvertrauen.

Die Leute lassen sich wirklich etwas einfallen, wenn es etwas zu holen gibt. Nein, mich erstaunt nicht der unterschiedliche Zuspruch, den geistige und materielle Angebote erfahren. Darüber bin ich lange hinaus: Ich weiß, der Prospekt wird nicht in die Zeitung gesteckt, um Leser für die Supermarktangebote zu finden. Die Zeitung wird um den Supermarktprospekt gehüllt, damit sie Leser findet. Unsere kleine, tapfere Zeitung hätte nicht 50.000, sondern 500.000 Abonnenten, wenn jeden zweiten Samstag eine Fußballkarte in ihr stecken würde. In der Halbzeit würde dann in allen Stadien der Kulturaufmacher gelesen und über die Debattenbeiträge gestritten.

Als ich noch über der Verteilungsfrage grübelte, klingelte das Telefon:

„Junge, hast du in der Zeitung unsere Jahreskarten angeboten?“

„Oh, Papa, hallo, ich dachte, du liest keine taz.“

„Ich bin angerufen worden. Jemand wollte meine Karte.“

Mein Vater meinte, das Spiel könnte noch auf Sonntag verlegt werden. Eventuell. Außerdem wisse man nie, ob jungen Paaren kurz vor der Hochzeit nicht doch noch Bedenken kämen. Und der Pfarrer könne erkranken oder der Papst sterben oder …

Wir haben uns schließlich darauf verständigt, dass diejenige die Karten verteilt, die uns die Suppe eingebrockt hat. Meine heiratswillige Schwester. Sie darf unsere sechs Jahreskarten an Freunde verteilen, die erst abends zur Hochzeit kommen wollen. Aber nicht in Blau und Weiß.

Telefonnummer meiner Schwester?kolumne@taz.de