30. Mai - 7. Juni + 5. - 13. September 2026
Estland / Lettland
Reiseleiter Tigran Petrosyan (taz)
Architektonische Pracht und Vielfalt, eine wechselhafte, teils tragische Geschichte, die jeweilige Kultur und Landessprache als eine Art Alleinstellungsmerkmal, aber auch Champion in Sachen Digitalisierung: In den baltischen Staaten Estland und Lettland im Norden Europas, die an die Russische Föderation grenzen, gibt es viel zu entdecken - doch das derzeit Prägendste ist: beide haben eine EU-/Nato-Grenze zu Russland!
Tallinn und Riga, Haupt- und Hansestädte mit einer langen Tradition, sind ein wahrhaftiges Kleinod. Liebhaber*innen des Jugendstils dürften in der Rigaer Altstadt auf ihre Kosten kommen. Estland hingegen hat sich als kleines „Digital-Wunderland“ einen Namen gemacht. Hier bringen beispielsweise computergesteuerte Wägelchen die Pizza nach Hause. Das erklärt vielleicht, warum die Schülerinnen in Estland bei der Pisa-Studie vom Dezember 2023 erneut einen Spitzenplatz belegen.
Programm
Seit dem 24. Februar 2022 hat sich jedoch viel geändert. Denn Russlands Krieg gegen die Ukraine hat auch hier deutliche Spuren hinterlassen – nicht zuletzt wegen der russischen Minderheit, die in beiden Staaten einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ausmacht.
Der Krieg hat sogar Auswirkungen auf die Religion. In Estland gibt es bereits seit den 90er Jahren neben der orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchiat mit der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche eine zweite orthodoxe Kirche, die eigenständig ist. Der öffentliche Druck auf erstere wächst. In Lettland hingegen hat sich die Orthodoxe Kirche letztes Jahr von Moskau losgesagt.
Estland und Lettland haben Gemeinsames, aber auch Trennendes, weswegen die immer noch gebräuchliche geografische Bezeichnung „Baltikum“ der Komplexität der Region nicht gerecht wird und in die Irre führt.
Was sie teilen, sind historische Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Seit 1918 erstmals unabhängig, wurden Estland und Lettland als Ergebnis der geheimen Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes 1940 von der Sowjetunion annektiert. Dem folgte von 1941 bis 1944 ein brutales Besatzungsregime durch die Truppen Nazideutschlands.
In diesen Zeitraum fallen auch grausamste Verbrechen an Juden und Jüdinnen, wobei „Ortskräfte“, wie beispielsweise die lettische SS-Legion, eifrig aktiv waren. Von 70.000 in Lettland lebenden Juden und Jüdinnen wurden allein bis Ende 1941 mehr als 90 Prozent ermordet. Im Herbst 1944 wurden beide Länder als Sozialistische Sowjetrepubliken (SSR) der Sowjetunion angegliedert.
In den 80er Jahren regten sich, nicht zuletzt auch dank Michail Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestroika, Absetzbewegungen von Moskau. Unvergessen sind die Bilder vom 23. August 1989, als Bewohner*innen Lettlands, Estlands aber auch Litauens von Vilnius über Riga bis nach Tallinn eine 600 Kilometer lange Menschenkette bildeten, um für die Unabhängigkeit ihrer Staaten zu demonstrieren.
Seit 2004 gehören Estland und Lettland sowohl der Europäischen Union als auch der Nato an. Sie haben es mit einem besonderen Erbe der Sowjetzeit zu tun: In beiden Staaten leben zahlenmäßig bedeutende russische Minderheiten. So gehören in Estland, wo rund 1,3 Millionen Menschen wohnen, knapp ein Viertel dieser Minderheit an. In Lettland, mit rund zwei Millionen, sind es rund 27 Prozent.
Viele von ihnen haben immer noch den Status sogenannter „Nichtbürger*innen“, da sie mangels des Bestehens einer obligatorischen Prüfung, bei der auch Kenntnisse der Amtssprache nachgewiesen werden müssen, nie einen estnischen bzw. lettischen Pass bekommen haben. Dennoch hat sich in den vergangenen Jahren ein gedeihliches Neben- und Miteinander zwischen den verschiedenen Gruppen entwickelt.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges geht jetzt die Angst um. „Wir könnten die Nächsten sein“, ist mittlerweile ein Ausspruch, den Gäste häufig zu hören bekommen. Beide Länder gehören zu den vehementesten Unterstützern der Ukraine. So ist Estland, umgerechnet auf die Bevölkerungszahl, bei Waffenlieferungen an Kyjiw EU-weit Spitzenreiter.
Kurzum: Der Krieg birgt Sprengstoff für die jeweiligen Gesellschaften. Das fragile Gleichgewicht zwischen Est*innen und Lett*innen sowie Angehörigen der russischen Minderheit scheint akut gefährdet zu sein.
Die baltische Vergangenheit und die aktuellen Herausforderungen im Verhältnis zu Russland prägen die Region bis heute. Kunst und Kultur eröffnen dabei neue Perspektiven auf Erinnerung, Identität und politische Realität – und schärfen den Blick für historische Zusammenhänge ebenso wie für gegenwärtige Spannungen. Besonders anschaulich wird dies im Kumu Kunstmuseum in Tallinn. Durch Ausstellungen zur sowjetischen und postsowjetischen Kunst wird sichtbar, wie stark politische Systeme, Anpassungsdruck und Widerstand die künstlerische Ausdrucksform beeinflusst haben.
Russische Oppositionelle und Andersdenkende haben in Estland Zuflucht gefunden. Von hier aus versuchen sie, mit Anti-Kriegs-Projekten und unabhängigen Initiativen der Propaganda des Kremls entgegenzutreten. Aus erster Hand erfahren wir in Tallinn von ihren Erfolgen, Rückschlägen und den Hindernissen, die der Kampf gegen Desinformation und Repression im Ausland mit sich bringt.
Ein junger estnischer Journalist ordnet die politische und wirtschaftliche Lage des Landes ein und vermittelt anhand persönlicher Erfahrungen Einblicke in den Alltag Estlands.
Wir besuchen Narva, die östlichste Stadt Estlands direkt an der Grenze zu Russland, 95 Prozent der Einwohner*innen sind russischsprachig. Unser Hotel liegt im Vorort Narva-Jöesuu. Der traditionsreiche Kurort an der Ostsee verbindet Natur, Erholung und Geschichte. Der lange Strand lädt zum Baden ein, während die umliegenden Wälder zu kurzen, entspannten Spaziergängen einladen. Am Abend bietet die Hotelanlage die Möglichkeit, den Tag in einer finnischen Sauna und traditionellen russischen Banja ausklingen zu lassen - ein besonderes Wellness-Erlebnis in unmittelbarer Nähe zur Grenze.
Tartu steht ebenfalls auf unserem Programm. Die zweitgrößte Stadt Estlands ist der Sitz der größten und ältesten Universität Estlands und war 2024 eine von drei Europäischen Kulturhauptstädten.
Die Tage in Lettlands Hauptstadt Riga stehen zu einen ganz im Zeichen der Erinnerungskultur. Dazu gehören Besuche des in den 90er Jahren aufgebauten Okkupationsmuseums sowie der Holocaust-Gedenkstätte Rumbula. In dem Kiefernwäldchen bei Riga ermordeten Angehörige der SS Ende 1941 an nur zwei Tagen über 26.000 Juden und Jüdinnen.
Seit dem 24. Februar 2022 haben über 300 Journalist*innen, vor allem aus Russland, aber auch aus Belarus und der Ukraine in Lettland Zuflucht gefunden. Erste Anlaufstelle für sie ist die Nichtregierungsorganisation „MediaHub“ in Riga, wo sie finanzielle und juristische Unterstützung sowie einen Platz zum Arbeiten finden. Wir besuchen das MediaHub.
Olga Yakubouskaya ist im Exil in Lettland zu einer wichtigen Vertreterin der Protestkunst gegen die Diktatur in Belarus geworden. In ihren Arbeiten verbindet sie Malerei mit politischem Erzählen: Sie malt Katzen als Sinnbilder für die politischen Gefangenen ihres Heimatlandes und erzählt durch diese Motive deren Geschichten von Repression, Hoffnung und Widerstand.
Lettland plante zeitweise den Austritt aus der Istanbul-Konvention. Nach breiten öffentlichen Protesten und starkem zivilgesellschaftlichem Widerstand im Herbst 2025 wurde dieses Vorhaben jedoch nicht umgesetzt. Mit Blick auf die Parlamentswahlen 2026 bleibt das Thema dennoch politisch brisant und weiterhin präsent im öffentlichen Diskurs.
Im Rahmen unseres Besuchs lernen wir das Frauenzentrum „Marta“ kennen. Die Organisation setzt sich seit Jahren gegen häusliche Gewalt und Menschenhandel ein und kämpft für die Stärkung der Frauenrechte. Vor diesem Hintergrund ist auch die Istanbul-Konvention erneut auf die Agenda geraten – als zentrales Instrument im Einsatz für den Schutz von Frauen.
Was jedoch wäre ein Besuch Rigas ohne einen Abstecher zum Zentralmarkt am Fluss Daugava. Die Hallen gehören seit 1997 gemeinsam mit der Altstadt zum Weltkulturerbe der UNESCO. Hier sind auch Spezialitäten aus vielen Republiken der ehemaligen Sowjetunion zu erwerben. Für Fans von Likör ein Muss: Der Rigaer Schwarze Balsam (Rīgas Melnais balzams). Der traditionelle Kräuterschnaps existiert mittlerweile in verschiedenen Sorten, darunter auch Kirsche, schwarze Johannisbeere sowie Minze/Schokolade.
Schon unsere Abendessen werden zu besonderen Erlebnissen. Die kulinarische Reise führt durch die estnische und lettische Traditionsküche, ergänzt durch slawische und skandinavische Einflüsse. Auf den Tisch kommen Gerichte mit Fleisch und Fisch, aber ach ein gemeinsamer Abend in einem georgischen Restaurant sorgt für warme Atmosphäre und neue Geschmackserlebnisse.
Selbstverständlich ist auch an unsere vegetarisch reisenden Gäste gedacht: Vegetarische Varianten stehen bei allen Mahlzeiten zur Auswahl.
Reiseleiter im September: Tigran Petrosyan
Jahrgang 1984, hat in Jerewan, Mainz und Berlin Orientalistik, Geschichts- und Kulturwissenschaften studiert und in Berlin über Integration, Migration und Medienwahrnehmung promoviert. Er schreibt vor allem für die taz, für ZEIT-ONLINE und für das Journal von Amnesty International. Als Reporter ist er in Osteuropa unterwegs, unter anderem im Baltikum und im Südkaukasus. Er leitet die Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung, ist Herausgeber des Buches "Krieg und Frieden. Ein Tagebuch" (Sept. 2022).