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Archiv-Artikel

Arbeit und Demokratie

Die Grünen haben ihre eigenständige Sozialpolitik aufgegeben, um keinen Ärger mit der SPD zu kriegen. Es ist höchste Zeit, dass sie ihr Konzept der Grundsicherung aktualisieren

Dank der Neuwahl hat sich das Zeitfenster für eine Revision der grünen Sozialpolitik fast geschlossen

Wie schön hätte es sein können. Andrea Fischer statt Ulla Schmidt. Die Grünen als Stichwortgeber einer „Agenda 2006“ oder „Agenda 2020“: Ökologie und Sozialpolitik endlich versöhnt, keine Rückkehr zu Atompolitik und Ressourcenvergeudung um der Arbeitsplätze willen. Eine wirksame Entkopplung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung wäre das Zentrum jener Agenda gewesen. Wäre, hätte.

Die Realität der letzten zwei Jahre sah anders aus. An der „Agenda 2010“, verkündet von Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003, wirkten die Grünen nicht mit. Sie war eine Verzweiflungstat des Bundeskanzleramts. Ihr ging keine politische Diskussion voraus. Dafür folgten markige Solidaritätsschwüre und grüne Vasallentreue. Das hatte auch praktische Gründe. Die Grünen verfügten schlicht nicht über sozialpolitische Kompetenzen im rot-grünen Regierungstanker. Beide sozialpolitischen Ministerien waren in sozialdemokratischer Hand, nachdem Andrea Fischer am 9. Januar 2001 als Gesundheitsministerium zurückgetreten ist.

Gut, mit Rezzo Schlauch hatten die Grünen einen Staatssekretär in Clements Ministerium. Doch er interessierte sich nie für Sozialpolitik. In der Bundestagsfraktion sah es kaum besser aus. Die für die Sozialpolitik zuständigen Abgeordneten waren entweder verkappte Sozialdemokraten (wie Thea Dückert), einflusslos (wie Markus Kurth) oder von Fischers Gnaden abhängig (wie Katrin Göring-Eckardt).

Überhaupt Joschka Fischer. Mittlerweile der grüne Ritter von der traurigen Gestalt. Sein Hauptinteresse galt stets der Macht. Seine grünen Sancho Pansas taten alles, um eine eigenständige Position nach Schröders „Agenda 2010“-Putsch zu verhindern.

Politik ist kurzlebig. Deshalb eine kleine Erinnerung: Im Mai 2003, gut zwei Monate nach der Agenda-Verkündigung, fand in Düsseldorf ein „Zukunftskongress“ der Grünen statt, Thema: „Sozial ist nicht egal!“. Der Auftakt war eindrucksvoll. Claus Offe hielt den Eröffnungsvortrag: „Perspektivloses Zappeln“, eine schneidende Kritik der „Agenda 2010“ (nachzulesen unter: http://www.blaetter-online.de/artikel.php?pr=1564). 500 Grüne im Saal klatschten heftigsten Beifall. Alle? Nein, in den ersten zwei, drei Sitzreihen beteiligte sich nur einer, Reinhard Bütikofer. Der Rest der basisdemokratisch vorn platzierten grünen Elite rührte kaum die Hände. Das war kein Zufall.

Die grüne Elite hatte einiges zu tun in den folgenden zwei Jahren. Sie musste ihre Basis auf Linie bringen. Ihr half dabei zweierlei: der Wille zur Macht und der wissenschaftlich-journalistische Mainstream. Machtwille ist meist ein Produkt zynischer Vernunft, jedenfalls dann, wenn Macht nur Macht will. Das Duo Fischer/Trittin, darin stets einig, bügelte grüne Kritikanwandlungen ab, in der Sache der Sozialpolitik kenntnislos und desinteressiert.

Selbst Hartz IV wurde als rot-grünes Projekt verkauft. Der Mainstream tat den Rest dazu. Nun, man hätte auch ein grünes Projekt daraus machen können: Wenn man diejenigen zu Wort hätte kommen lassen können, die nicht zum Mainstream gehören. Diejenigen zum Beispiel, die von Hartz IV getroffen sind. Oder diejenigen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, die glaubhaft machen können, dass eine Politik des „workfare statt welfare“, der verschärften Verkopplung von Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung, weder zu mehr Arbeitsplätzen noch zu mehr Demokratie führt. Das belegen internationale Erfahrungen etwa der US-amerikanischen Sozialhilfereform von 1996.

Kann man Politikern vorwerfen, wenn sie sich einem neoliberalen Zeitgeist anpassen? Kann man sie dafür kritisieren, dass sie kritiklos sind gegenüber den vagen Utopien einer Radikalisierung der Marktwirtschaft? Natürlich. Schließlich haben sie einen Beratungsapparat zur Hand, Ressourcen, Beziehungen, auch Macht. Wie verantwortlich gehen sie damit um?

Nun, man soll gerecht sein. Ein paar Kleinigkeiten sind den Grünen auch in der Sozialpolitik gewiss gelungen. Es fällt einem zwar nichts Nennenswertes ein. Doch ein paar Belastungen für besonders Benachteiligte wurden dank grüner Interventionen womöglich reduziert, beispielsweise für behinderte Bürgerinnen und Bürger, deren Arbeitsmarktchancen die „Agenda 2010“ noch mehr minderte. Was einer rot-grünen „Erfolgsbilanz“ in der Sozialpolitik ansonsten zugeschlagen werden mag – die Einführung der Grundsicherung in der Rentenversicherung, die Rentner nicht mehr zum Sozialamt treibt –, ist sozialdemokratischer Provenienz. Grün wäre eine Grundrente gewesen. Darüber spricht niemand mehr bei den Grünen.

Halt!, werden die grünen Freunde nun rufen, wir haben die Diskussion um die „Bürgerversicherung“ erfunden, im grünen Bundestags-Wahlprogramm von 2002. Das ist nicht falsch. Doch in die öffentliche Diskussion gelangte das Thema „Bürgerversicherung“ erst mit den Berichten der Rürup-Kommission der Bundesregierung und der Herzog-Kommission der CDU im Herbst 2003. Was die Grünen aus dieser Diskussion dann aber machten, ist Teil des Vasallen-Problems. Sie beschränkten sich auf die rot-schwarzen Vorlagen und schlugen ein Bürgerversicherungs-Modell vor, das sich von demjenigen der SPD praktisch nicht unterschied. Die von Andrea Nahles geleitete Kommission setzte hier immerhin gewisse Intelligenz ein, während die Grünen nichts dergleichen für nötig gehalten haben.

Das Duo Fischer/Trittin war in Sachen Sozialpolitik stets kenntnislos und desinteressiert

„Sicherheitshalber“ beauftragte die Bundestagsfraktion auch noch ein bekannt SPD-nahes Institut mit den Berechnungen zum grünen Bürgerversicherungsmodell. Das Ergebnis: ein politischer Vorschlag, der nur den schönen Namen „Bürgerversicherung“ transportiert, aber pseudoreformistisch fast nichts am Sozialversicherungssystem ändern würde. Um gerade 1,3 Prozent würden dank grünem Reformvorschlag die Krankenversicherungsbeiträge sinken. Ein vages Versprechen für einen aufwändigen Systemwechsel. Angela Merkel ist mit ihrer Kopfpauschale weitaus mutiger.

Was tun? Dank Schröders Hasardeurstück Neuwahl hat sich das Zeitfenster für eine Revision der grünen Sozialpolitik fast geschlossen. Vielleicht gibt es Wunder. Vielleicht wachen die grünen Spitzenbeamten noch auf – dank der populistischen, aber nicht grundlosen Konkurrenz der Lafontaine-Gysi-Truppe. Wie sähe eine nachhaltige grüne Sozialpolitik aus? Sie würde sich für eine „Grundeinkommensversicherung“ einsetzen, die allen BürgerInnen ein Grundeinkommen garantiert. Sie würde über eine Sozialsteuer von etwa 17,5 Prozent finanziert und ohne Beitragsbemessungsgrenze alle Steuerzahler in die Verantwortung nehmen. Sie würde auch die Krankenversicherung so aufstellen, ähnlich wie es in Österreich seit 50 Jahren gelingt – und das mit weniger als 9 Prozent Beitrag. Zudem müssten die Grünen ein Referendum in der Sozialpolitik fordern, denn die Bevölkerung hätte der „Agenda 2010“ kaum zugestimmt.

MICHAEL OPIELKA