: Der Präsident der Vorsehung
AUS COLUMBUS, OHIO ANDREA BÖHM
Seit er Moses die zehn Gebote in die Hand gedrückt hat, ist Gott nicht mehr so mitteilsam gewesen wie in diesem Wahlkampf. Justizminister John Ashcroft teilte der Herr mit, er habe Amerika einen zweiten Terroranschlag erspart, weil der „Präsident Teil der Vorsehung“ sei. Fernsehprediger Pat Robertson, der bekanntlich eine Standleitung in den Himmel hat, verriet Gott schon vor Monaten, dass George W. Bush einen klaren Sieg erringen werde. Der Präsident höchstselbst soll auf einem Wahlkampftreffen in Pennsylvania erklärt haben, dass „Gott durch mich spricht“ – etwa wenn es um den Irakkrieg geht. Und Pastor Rod Parsley in Columbus, Ohio, hat der Allmächtige aufgetragen, die Botschaft von der „richtigen Wahl“ nicht nur in seiner Kirche, sondern im ganzen Land zu verbreiten.
Über die christliche Rechte lässt sich ebenso trefflich wie ratlos spotten, aber nach einem Besuch in der World Harvest Church vergeht einem der Sarkasmus. Die hat 12.000 Mitglieder, einen Multimediasaal für 5.000 Gläubige mit Leinwand und einem Bühnenbild, das an die Hollywood-Musicals der 40er-Jahre erinnert. Doch wo früher Ginger Rogers und Fred Astaire vom Sternenhimmel herabstiegen, schwebte an diesem Sonntag vor der Wahl der Gospel-Chor, während Pastor Parsley und seine senior elders, seine „Ältesten“, Wunder vollbrachten.
Wer Gottes Anwesenheit im Saal nicht spürte – wahrscheinlich war das nur ich –, spürte zumindest sofort Trommel- und Zwerchfell, als die Rockband auf der Bühne „Jesus, I’m addicted to you“ anstimmte. Fünf Minuten später waren die 3.000 Gläubigen auf den Beinen, reckten mit verzückten Gesichtern die Arme gen Himmel, klatschten, sprangen, lachten, weinten. Einige zitterten, andere stießen Trillertöne aus, die an Freudengesänge arabischer Frauen erinnerten.
Der Anblick einer Massenekstase ist schwer zu ertragen, wenn man die einzige ist, die nicht mitmacht. Ich wehrte höflich die Umarmungsversuche meiner Nachbarn ab, wollte mir auch nicht zur persönlichen Begegnung mit Jesus gratulieren lassen, die ohnehin nicht stattgefunden hat. Und ich verweigerte die Teilnahme am „Victory Dance“, bei dem sich die Versammelten im Kreis drehen, bevor sie an den Altar treten, um unter der heilenden Hand des Pastors zu Boden zu sinken, auf dass Migräne, Bronchitis, Geschwüre geheilt werden – oder was der Satan sonst noch in seinem Waffenarsenal haben mochte.
Zum Abschluss schwor der Pastor seine Gemeinde auf die „Schlacht um die Seele des Landes“ ein. Feind Nummer eins ist bei dieser Wahl die „Lobby der Homosexuellen“, gefolgt von den Befürwortern der Abtreibung und allem, was sich im weitesten Sinne unter dem Wort „liberal“ zusammenfassen lässt.
Die Erkenntnis dieses Abends bestand nicht darin, dass die Angehörigen der World Harvest Church George W. Bush für einen Bruder im Geiste halten. Sie bestand darin, dass zwischen diesen Gläubigen und Politikern wie John Kerry gar keine Kommunikation mehr stattfinden kann – so wenig wie zwischen einer Sekte und der sie umgebenden Gesellschaft. Nur handelt es sich bei der World Harvest Church eben nicht um eine Sekte, sondern um einen Teil einer religiös-politischen Bewegung, die de facto eine der beiden amerikanischen Parteien gekapert hat.
Kerrys Forderung nach gerechteren Steuern, besserer Krankenversicherung oder einer anderen Energiepolitik war an diesem Abend des „Heilens“ nicht nur völlig irrelevant. Sie war das Sakrileg eines Politikers, der sich immer noch anmaßt, den Problemen der Menschen mit weltlichen Lösungen zu begegnen. Mit anderen Worten: John Kerry gehört zur reality based community. So bezeichnet man im Weißen Haus jene, die glauben, dass „Probleme durch das kluge Studium einer nachweisbaren Realität gelöst werden können“.
Ein enger Mitarbeiter des Präsidenten hatte dies vor ein paar Wochen einem Reporter des New York Times Magazine dargelegt und keinen Zweifel daran gelassen, dass für ihn auch die Presse zu dieser Kaste gehört: „Die Welt funktioniert nicht mehr so“, sagte er. „Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Die könnt ihr dann ja wieder studieren und bewerten, aber in dieser Zeit verändern wir sie schon wieder. Wir sind die Akteure der Geschichte, und euch allen wird nichts anderes übrig bleiben, als zu beobachten, was wir tun.“
Solche Sätze offenbaren mehr als die Arroganz der Macht. Sie sind Ausdruck einer Schwarzweißsicht auf die Welt, eines gefährlichen Schulterschlusses zwischen einer politischen Elite und einem bestens organisierten und finanzierten Netzwerk von Endzeitpredigern, die bei Washingtoner „Power Lunches“ zwischen Krabbencocktail und Dessert die Demokratie als Übergangsphase zum Königreich Gottes abhaken.
Es ist gut möglich, dass diese Leute nach den Wahlen keine Termine mehr im Weißen Haus bekommen. John Kerry brachte letzte Woche schließlich nicht mit der Hilfe Gottes, sondern der tatkräftigen Unterstützung von Bruce Springsteen 80.000 Menschen zum Jubeln und Tanzen. Und die sind weitaus repräsentativer für Amerika als die Gemeinde der World Harvest Church. Aber sie sind noch lange nicht so gut organisiert – das darf Kerry im Fall eines Wahlsiegs nicht vergessen.
Offensichtlich schließen einige von Gottes bevorzugten Gesprächspartnern einen Sieg des „Demokraten“ nicht mehr aus und positionieren sich für diesen Fall. Allen voran Pat Robertson. „Gott hat mir von Anfang an gesagt, dass der Krieg im Irak erstens ein Desaster und zweitens blutig wird“, erklärte er vor wenigen Tagen dem Fernsehsender CNN. Das habe er dem Präsidenten im Frühjahr 2003 weitergesagt, aber der habe es nicht hören wollen – wahrscheinlich, weil sein Gott anderes geflüstert hatte. Der Allmächtige soll auch seine Prognose über den Wahlausgang geändert haben: „Er sagt jetzt, dass es eng wird. Ganz eng.“ Das würde immerhin beweisen, dass der Herr im Gegensatz zum Präsidenten seine Fehleinschätzungen korrigiert.
Ob ich irgendetwas gespürt hätte, fragte mich mein Banknachbar am Ende des Gottesdienstes in der World Harvest Church. „Kopfschmerzen“, sagte ich, und er sah mich ungläubig an. „Glauben Sie, dass Bush gewinnt?“, fragte ich. Noch ein ungläubiger Blick. „Absolut.“ „Und wenn er doch verliert?“ Jetzt wurde das Gesicht milde. „Gott segne Sie“, sagte er, das Gespräch ist beendet.
Später an diesem Sonntag fand ich meine reality based community im „Tee Jay’s“, einem schmuddeligen Schnellrestaurant, wo die Resopaltische dieselbe Farbe haben wie die Gravy-Soße auf allen Gerichten. Links von mir saß Dwayne, der einen Abschleppwagen fährt und Autos beschlagnahmt, deren Besitzer ihre Raten nicht bezahlen. Das Geschäft läuft gut, weil derzeit viele Menschen in Ohio ihre Raten nicht zahlen können. Den dünnen Kaffee servierte Jimmie, der mit seiner blondierten Rudi-Völler-Frisur, mehrfach beringten Fingern und dezentem Hüftschwung offenbar nichts dagegen hat, für schwul gehalten zu werden. Rechts von mir regte sich Ed darüber auf, dass den Krankenhäusern und Kliniken der Impfstoff gegen Grippe ausgegangen war. Er wird deswegen Kerry wählen. Dasselbe riet er dem kiffenden Aushilfskoch mit dem Milchbart und der gepiercten Lippe, der mit 22 Jahren immer noch keinen Führerschein hat, weil er unlängst bei seinem Bewährungshelfer in den Plastikbecher pinkeln musste – „und da war natürlich was drin“. – „Kerry ist mehr für Resozialisierung oder wie das heißt“, sagte Ed.
John Kerry gewann an diesem Sonntagabend an der Theke von „Tee Jay’s“ mit drei zu eins Stimmen – alle reality based.