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Der Nerd im Wissenschaftler

Drei Diskurse pro Minute: Am Wochenende trafen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen in Köln, um über Thomas Pynchon zu reden. Mythenbildung fand während der Kaffeepausen statt

von UH-YOUNG KIM

Schweigen lag über dem Universitätsplatz. Seit zwei Wochen wurde in Köln gegen die geplanten Studiengebühren gestreikt. Während die Studierenden die vorgezogene vorlesungsfreie Zeit auf den umliegenden Wiesen genossen, versammelten sich am vergangenen Wochenende knapp achtzig Liebhaber paranoider Systeme in Hörsaal 23. Die Teilnehmer der internationalen Fachtagung „site specific: From Aachen to Zwölfkinder – Pynchon | Germany“, ausgerichtet vom Englischen Seminar, stellten sich in Wort-, Film- und Musik-Beiträgen dem Werk Thomas Pynchons, des „Großen Unsichtbaren“ (Salman Rushdie) der amerikanischen Postmoderne.

Dessen enzyklopädische Romane haben seit „V“ eine regelrechte „Pynchon Industry“ begründet. Darin begeben sich Literaturwissenschaftler auf die Fährten der labyrinthischen Plots. Für die Mitglieder der „Pynchon Family“ – wie sie John Krafft, der Mitveranstalter und Herausgeber der Fachzeitschrift Pynchon Notes, liebevoll bezeichnet – ist des Schriftstellers hartnäckige Verweigerung vor der Öffentlichkeit weniger Anlass für spekulative Mythenbildungen, wie sie unter anderem in dem ebenfalls vorgeführten Dokumentarfilm „A Journey Into The Mind Of P.“ der Dubini-Brüder vorkommen. Vielmehr dient der mediale „Selbstmord“ des Autors als Aufforderung, um präziser an die „gigantischen Makromoleküle“ seiner Romane anzudocken.

Wenn der Kongress nach deutschen Motiven in Pynchons Werk forschte, so warfen die Beiträge ein unfreiwilliges Licht auf das, was der Autor selbst die „deutsche Sucht nach Unterteilung“ nennt. Auf der Suche nach Motiven und Parallelen strickten die Amerikanisten aus Kleinsteinheiten der dicht gewobenen Handlungsnetze Vorträge, die sich an Pynchons Recherche- und Kombinationsgenie abarbeiteten. Anhand einzelner Absätze aus „Die Enden der Parabel“ untersuchten sie mögliche Verbindungen mit der klassischen Musik von Wagner bis Schönberg, mit mathematischen Funktionen aus dem Raketenbau-Einmaleins oder mit Nietzsche.

Die mitunter komplexen und in elastischstem Kaugummi-Amerikanisch abgelesenen Thesen-Abfahrten hängten familienfremde Zuhörer mit drei Diskursen pro Minute ab. Und als Friedrich Kittler das Tagungs-Highlight über Pynchons „Elektro-Mystik“ auch noch auf Deutsch bot, hatten selbst die aus Amerika angereisten Experten am Ende keine Fragen mehr.

Der Nerd im Wissenschaftler brach bei Douglas Lennark durch, der über das Geburtsdatum Pynchons und eine akribisch nachvollzogene Handlungschronologie von „Die Enden der Parabel“ zu astrologischen Konstellationen und Fragen gelangte: Legte Tyrone Slothrop auf seinem Weg nach Berlin tatsächlich 20 km in nur 3 Stunden zurück? Als die Newcomerin in der Familie, die 23 Jahre alte Galena Eduardova aus Sofia, mit klaren Worten über die parabolische Architektur der Raketenfabrik Mittelwerke die volle Aufmerksamkeit des Fachzirkels und der Magister-Kandidaten gewann, entstand ein Schwingen in dem großen Rauschen. Dieses wurde im musikwissenschaftlichen Vortrag über die leicht zu überlesende Referenz an den Radio-Köln-Sound aus „Die Versteigerung von No. 49“ zu Klängen. Elektroakustische und elektronische Musik von Schaeffer bis Stockhausen lösten das Wort ab, die Sinuskurve bewegte sich als kleinstmögliches Sound-Atom in der Form der Parabel und deute auf Pynchons Technik des spektralen Aufbaus von Leitmotiven hin.

Während im Hörsaal strenge Diskurse von wahrlich pynchonesken Ausmaßen skizziert wurden, ging es in den Kaffeepausen dann doch nicht ganz ohne Gerüchte zu. Schließlich ist Pynchon ein Meister der Vermischung von Fiktion und Fakten. „Pynchonites“, die sich sonst nur aus dem Internet kennen, diskutierten die Echtheit eines im japanischen Playboy erschienenen Interviews mit Pynchon zum 11. September, entlarvten eine angekündigte Sammlung von drei neuen Pynchon-Novellen als Aprilscherz, konspirierten über Seriennummern der IG Farben und gaben „wahre“ Anekdoten aus der Studentenzeit des Autors zum Besten.

Terry Riley aus Fairbanks, dessen frühmorgendlicher Vortrag über das Paranormale publikumsmäßig unter der Unvorhersehbarkeit des deutschen Viertelfinal-Einzugs litt, plauderte über seine College-Tage, in denen die Pynchon-Lektüre auf LSD als Schlüssel zum Prinzip der allumfassenden Wahrheit galt. Dass Pynchon in der Amerikanistik als Synonym für „weird“ gilt, beklagte Riley. Er hatte kämpfen müssen, um an seiner Universität ein Pynchon-Seminar durchzuführen. Normalerweise ist Shakespeare sein Fachgebiet, aber: „Das hier macht Spaß!“

Diese Begeisterung vibrierte aufgrund des seltenen Anlasses einer Pynchon-Tagung und der wohl einmaligen Dichte an anwesenden Kennern beständig in der trockenen Seminar-Luft. In den Vorträgen aber sprang der Funke selten über. Der anonyme Spender, der die Konferenz ermöglichte, gab sich während der drei Tage nicht zu erkennen. Ein Mann im Trenchcoat, wie er einst bei einem New Yorker Pynchon-Lookalike-Wettbewerb aufgetaucht war, saß nicht auf der letzten Bank.

Ob die Herausforderung, die tausend Handlungsstränge und paranoiden Falltüren des Werks zu entschlüsseln, Pynchon selbst gefallen würde, darf bezweifelt werden. Der Meister schweigt beharrlich, und der Familie bereitet das Freude. Und wen all das nur verwirrt, dem geht es nicht anders als Tyrone Slothrop, dem Antihelden aus „Die Enden der Parabel“, den der Erzähler mit folgenden Worten am Rande des Wahnsinns balancieren lässt: „Wenn etwas Tröstliches – Religiöses, wenn man will – in der Paranoia liegt, so gibt es doch auch eine Anti-Paranoia, in der nichts mehr mit irgendetwas anderem verknüpft ist, ein Zustand, den nicht viele von uns ertragen.“

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