portrait : Der schnellste Mann der Welt
Natürlich ist dieses ungute Gefühl mal wieder mitgesprintet, auch bei Asafa Powell, dem seit dem späten Dienstagabend schnellsten Mann der Welt. Nur 9,77 Sekunden benötigte der 22-jährige Jamaikaner beim „Super Grand Prix“ genannten Sportfest im Olympiastadion zu Athen für die 100 Meter, was nichts anderes bedeutete als: Weltrekord – und Generalverdacht. Wer schneller ist als der Wind, das ist in dopingverseuchten Zeiten wie diesen längst zur Faustregel geworden, der muss einfach mit ein paar Ampullen Argwohn betrachtet werden. Und stand nicht der Amerikaner Tim Montgomery, Powells Vorgänger als Weltschnellster, im Zentrum des großen Balco-Dopingskandals drüben im Ami-Land?
Man kann die Dinge so sehen, keine Frage. Und muss es doch nicht tun, zumindest bis jemand Beweise auf den Tisch gelegt und Powell damit als den nächsten bösen Buben aus dem Reich der Leichtathletik entlarvt hat. So lange hat der 22-Jährige als unbescholten zu gelten – und als das wahrscheinlich größte Sprinttalent aller Zeiten. Denn ganz aus heiterem Himmel fiel der Weltrekord von Dienstag keineswegs: Schon letzte Saison blieb Powell in neun von zehn Rennen unter der 10-Sekunden-Schallmauer, verbesserte dabei seine persönliche Bestzeit auf 9,91 Sekunden und gewann alle großen Rennen, mit Ausnahme von Olympia, wo er nur Fünfter wurde. Im Mai diesen Jahres schraubte der Mann aus Jamaika seine persönliche Bestmarke auf 9,84 Sekunden, was ihn bereits zum drittschnellsten Mann aller Zeiten hatte werden lassen – und ganz nebenbei andeutete, wozu er bei optimalen Bedingungen prinzipiell fähig ist.
Diese fand der ehemalige Junioren-Weltmeister, der in Kingston Sportmedizin studiert, am Dienstagabend vor: Sprinterfreundliche 20 Grad, ein beflügelnder und gerade noch zulässiger Rückenwind, dazu die bekannt schnelle Bahn von Athen – es passte einfach alles. „Ich wusste, dass ich den Weltrekord brechen kann. Es fühlt sich großartig an“, sagte Powell, der erst der vierte 100-m-Weltrekordler ist, der nicht in den USA geboren wurde. Dass der neue Sprintkönig aus Jamaika stammt, kann indes nicht wirklich überraschen. Die Karibikinsel gilt schon seit längerem als Sprinthochburg, man erinnere sich nur an Merlene Ottey. „Leichtathletik ist bei uns fast schon eine Religion“, sagt Powell. Schon an den Grundschulen wird nach Talenten gespäht, entsprechend groß ist das Reservoir an schnellen Frauen und Männern, auch Asafas Bruder Donovan war einer von ihnen. „Vielleicht macht uns das gute Essen auf Jamaika so schnell“, sagt Asafa Powell, der neue Weltrekordler. Hoffentlich ist es nichts anderes.
FRANK KETTERER