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Archiv-Artikel

portrait Ein Strippenzieher am Glöckchen

Dass hinter den Kulissen des Bundestages „geübte Strippenzieher“ am Werk sind, das weiß man. Wie aber sehen sie aus? Diese Frage lässt sich den kommenden vier Jahren leicht beantworten: indem man auf den Chef des Hohen Hauses verweist. Mit Norbert Lammert nämlich wird ein profundes Mitglied dieser Politikerspezies – kein Porträt über ihn, in dem das Strippenzieherwort fehlte – aus den Kulissen treten und an der Stirnseite des Parlamentssaales Platz nehmen, hinter dem Glöckchen, das zu benutzen von nun an seines Amtes ist. In den Sondierungsgesprächen wurde der 1948 als Sohn eines Bäckermeisters geborene Bochumer als Bundestagspräsidenten ausgeguckt.

Für Lammert selbst, den Vorsitzender des Landesgruppe Nordrhein-Westfalen in der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages, die gerne und oft als „mächtig“ tituliert wird, ist dieser Karriereschritt folgerichtig. Vizepräsident des Bundestages war er bereist in der vergangenen Legislaturperiode, und genau so: Schritt für Schritt hat Lammert seine Laufbahn bislang angelegt – vom ersten Bundestagsmandat 1980 über sein Amt als Parlamentarischer Staatssekretärin der Kohl-Ära bis zu seiner Aufnahme ins Kompetenzteam Angela Merkels mit dem Spezialgebiet Kulturpolitik. Bis zuletzt wurde Lammert denn auch als Kulturstaatsminister gehandelt. Aufgrund seiner blendenden Strippenzieher-Qualitäten galt er selbst in Kreisen seiner politischen Gegner als gute Wahl. Das will etwas heißen bei jemandem, der mit 16 Jahren der Jungen Union beigetreten ist, also eigentlich als jemand gilt, der mit Haut und Haaren an die falsche Sache verloren ist.

Was seine Sache ist, das hat Lammert aber immer noch selbst zu definieren gewusst. Man kann der Verwaltung des Bundestages nur raten, demnächst mal zur Sicherheit ein paar Ersatzglöckchen zu kaufen, denn die Art, in der Lammert bei Diskussionen auftritt, hat etwas Energisches – zu einigen Gebrauchsspuren an seinem wichtigsten Amtsgerät kann es da schon kommen.

Bevor er Politiker wurde, hat Lammert eine gegen den damaligen Zeitgeist angelegte akademische Ausbildung absolviert. Studium der Politikwissenschaft und Soziologie in Bochum und – der große Schritt in die Welt hinaus – Oxford. 1975 promovierte er, 28-jährig, über das Thema: „Lokale Organisationsstrukturen innerparteilicher Willensbildung“. Ein etwas akademisch klingender Titel, der aber ein Schlaglicht auf die Sorgfalt dieses Politikers wirft: Bevor er das Strippenziehen praktisch ausübte, hat er es sich bereits theoretisch angeeignet. Man möchte jedenfalls kein Zwischenrufer sein im nächsten Bundestag. Oder höchstens ein sehr guter. DIRK KNIPPHALS