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Archiv-Artikel

portrait Der Sekretär, dessen Anruf ersehnt wird

SchriftstellerInnen, die bis heute kurz nach 12.30 Uhr keinen Anruf von einem gewissen Horace Engdahl aus Stockholm erhalten, brauchen nicht bis zur offiziellen Bekanntgabe warten. Sie haben dann nämlich auch in diesem Jahr nicht den Literaturnobelpreis gewonnen. Eine halbe Stunde bevor er die Tür öffnet, vor der die Kameras auf ihn warten, pflegt der „ständige Sekretär“ der Schwedischen Akademie die oder den zu informieren, welcheR dann Ruhm und Ehre oder Neid und Anfeindungen, jedenfalls aber eine gute Million Euro einheimsen wird. Und erwischt dann wie 1999 einen Günter Grass auf dem Weg zum Zahnarzt. Oder 1995 einen Seamus Heaney gar nicht, weil der gerade in der griechischen Inselwelt abgetaucht ist. Wen der 57-jährige Literaturwissenschaftler und Experte der schwedischen Romantik, verheiratet mit der Literaturwissenschaftlerin Ebba Witt-Brattström, diesmal anrufen wird, hat er bis vor zwei Wochen selbst noch nicht gewusst. Da hatte sich noch keine Mehrheit der 15 Aktiven der 18-köpfigen „Svenska Akademien“ auf einen von den fünf Namen auf ihrer „kleinen Liste“ geeinigt. Und Engdahl war „sehr unsicher, wer es diesmal werden wird“. Mit den fünf Namen und deren Werken hatten sich drei Frauen und zwölf Männer der Akademie seit Mai beschäftigt. Diese „kleine Liste“ war aus den ursprünglich rund 300 Nominierungen von einem Auswahlkomitee über eine „mittlere Liste“ von 15 bis 20 Namen ausgesiebt worden. Und weil Horace Engdahl ein wichtiges Wort dabei mitzureden hat, wer in der Endauswahl landet, gilt er als „Le patron du nobel“, so der französische Nouvelle Observateur.

„Natürlich passiert es, dass mein persönlicher Favorit gewinnt“, versucht er diese Rolle herunterzuspielen: „Aber nicht jedes Jahr.“ Aufgrund seiner Vorsitzfunktion, vor allem aber wegen seines Wissens und seines Charismas dürfte der erst 1997 in den Kreis der Erlauchten gewählte Engdahl dennoch die Einzelperson sein, die den größten Einfluss auf den Preisträger hat. Und der langjährige Literaturkritiker schafft es meist, seine einstigen MedienkollegInnen gänzlich über diesen im Unklaren zu lassen. Waren bis vor zehn Jahren Lecks üblich, aus denen spätestens zwei Tage vor diesem Oktober-Donnerstag der Name durchsickerte, damit die Zeitungen in Ruhe die Sonderseiten redigieren konnten, blühen nun reine Spekulationen. Die Wettbüros setzen auf den Syrer Adonis, durch Stockholm schwirren viele Namen, die in die USA weisen: Roth, Oates, Auster, Pynchon. Oder – Peter Handke – gar zweimal hintereinander das gleiche Land? Engdahl orakelt: „Irgendwann passiert das. Auch um zu beweisen, dass das geht.“ REINHARD WOLFF