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Archiv-Artikel

portrait Der Regisseur, der kein Genre scheut

Ang Lee ist der große Gewinner bei der diesjährigen Vergabe der Golden Globes: Sein Film „Brokeback Mountain“ hat den Preis für den besten Film, bestes Drehbuch, beste Regie und besten Originalsong erhalten. Damit empfiehlt er sich nachdrücklich für die Oscarverleihung im März.

Lee hat als Grundlage für „Brokeback Mountain“ eine Erzählung der Autorin Annie Proulx gewählt. In die Settings des Westerns – die Berge Wyomings, die Weiten Texas’, den Alltag von Schafhirten, Rodeoreitern und Landarbeitern – bettet er das Melodram, indem er von einer vergeblichen Liebe erzählt. Im Mittelpunkt von „Brokeback Mountain“ stehen die Cowboys Ennis (Heath Ledger) und Jack (Jake Gyllenhaal). Sie lieben sich, aber sie haben nicht den Mut, diese Liebe zu leben. Lee begleitet die beiden über mehrere Jahrzehnte hinweg; wortkarg wie die Helden ist der Film, und der Regisseur versteht sich darauf, vieles der Imagination des Zuschauers zu überlassen.

Lees Virtuosität speist sich vor allem daraus, dass er Gefühle nicht über den Dialog erklärt, sondern in Bilder, Soundscape und Montage überführt. Von der Entfremdung zweier Figuren etwa erzählt er, indem er sie in einer Totalen jeweils am rechten und am linken Bildrand aufstellt. Zwischen ihnen steht der Nachthimmel wie eine schwarze Mauer. Nicht nur wegen dieser Gabe, Emotion ins Bild zu übersetzen, ist Lee ein herausragender Regisseur. Es zeichnet ihn überdies aus, dass er sich in vielen Genres mit großer Sicherheit bewegt. Mit fast jedem neuen Film wendet er sich einem neuen Schauplatz und einer neuen Zeit zu: Als er 1997 „The Ice Storm“ drehte, zeigte er, wie gut er ein Familiendrama zu inszenieren versteht. 1995 verfilmte er Jane Austens Roman „Sense and Sensibility“ und schaffte damit den Durchbruch zum Mainstream-Publikum, und 2000 bewies er mit „Crouching Tiger, Hidden Dragon“, wie tief seine Kenntnis des wuxia pian ist, jener chinesischen Kampfkunstfilmtradition, deren Choreografien der Schwerkraft spotten. Einzig seine Comic-Adaption „Hulk“ (2003) vermochte weder das Publikum noch die Kritik zu überzeugen.

Lees frühe Filme – „Pushing Hands“ (1992), „Wedding Banquet“ (1993) und „Eat Drink Man Woman“ (1994) – widmen sich Figuren, die aus Taiwan stammen und in den USA leben. Wie sich die Erfahrungen, die die Protagonisten im Osten wie im Westen machen, versöhnen lassen, ist ihr zentrales Sujet. Lee selbst hat diese Erfahrung gemacht: Er wurde 1954 in Taipeh geboren und ging 1975 in die USA, um in Chicago und New York zu studieren. Dort lebt er heute gemeinsam mit seiner Frau Jane Lin und seinen beiden Söhnen. CRISTINA NORD