peter ahrens über Provinz : Buden. Betrunkene Massen. Backfisch-Orgie
Wenigstens bei der Verleihung des Kisch-Preises sollte die Medienkrise mal nicht zu merken sein. Doch das ging nicht
Dies ist der Olymp. Man darf ganz viel Sekt trinken, ohne bezahlen zu müssen. Frauen und Männer aus dem Katalog servieren wohlschmeckende Häppchen, die Menschen sind schick und riechen gut. Und wenn man Glück hat, gießt man Reporterstar Alexander Osang den Orangensaft über das Sakko und kann so mit ihm ins Gespräch kommen.
Dies ist das jährliche get-together der Götter, all jener Heroen und Heroinen, die uns von den aufregenden Schauplätzen dieser Welt berichten, aus Kabul, Tel Aviv und aus dem Amtsgericht Moabit. Smoltczyk und Kurbjuweit sind natürlich auch da, die Lichtgestalten des Spiegel. An diesem Abend, wenn im Foyer des Gruner & Jahr-Verlags am Hamburger Baumwall der Egon-Erwin-Kisch-Preis verliehen wird, die Auszeichnung für die beste Reportage 2002 im deutschen Journalismus, dann ist die Medienkrise so unendlich weit weg.
Als ich noch ein kleiner Volontär im Ostfriesischen war, saß ich mit meiner Mitvolontärin gern und oft auf der Küchentreppe in der Sonne. Wir rauchten eine Zigarette und blätterten in den roten Bänden vom Aufbau-Verlag, in denen die Kisch-Preis-nominierten Reportagen zusammengefasst waren. War da bei Axel Hacke aus der Süddeutschen Zeitung nicht noch eine Formulierung, die man leicht abgewandelt in den eigenen Neunzigzeiler über die Jahresversammlung des Nordwestdeutschen Fischereiverbandes einweben konnte? Und dieser Satzbau von Uwe Buse im Spiegel – ganz kurz, abgehackt, Telegrammstil – vielleicht wirkte er ja auch, wenn über den Gallimarkt in Leer geschrieben wird: „Gallimarkt. Buden. Betrunkene Massen. Backfisch-Orgie.“ Ich hab das vor dem Druck der Ausgabe dann doch noch mal umformuliert. Das mit den betrunkenen Massen hatte dem verantwortlichen Lokalredakteur nicht so gut gefallen. Es wurde in der Zeitung dann lieber als „ausgelassene Atmosphäre“ bezeichnet.
Ausgelassen ist das auch nicht, was sich bei Gruner & Jahr an diesem Abend breit macht. Stattdessen hängt Wichtigkeit in der Luft. Alles wartet auf das Buffet, das bekanntermaßen das beste Hamburgs bei Medienterminen ist. Aber vorher müssen noch die ersten drei Preise unters Volk der 30 nominierten Reporter gebracht werden. Dementsprechend ist die Stimmung etwas bemüht. Die Koryphäen bemühen sich um Lockerheit, Stern-Chefredakteur Andreas Petzold (geschätzte Körpergröße: 2,25 Meter) und Tagesspiegel-Kollege Giovanni di Lorenzo (geschätzte Körpergröße: 1,50 Meter) unterhalten sich, was sehr lustig aussieht.
Sekt und Bier tun ihre Arbeit, aber alle wissen, was auf dem Spiel steht. Die, die zum ersten Mal nominiert sind, ahnen, dass ihre Karriere auf Sicht gerettet ist, wenn sie unter die ersten drei kommen. Die Platzhirsche, die jedes Jahr unter den Favoriten auftauchen, haben ihren Ruf zu verteidigen. Der Kisch-Preis ist das Laufbahnkatapult, das ist allen bewusst, und deshalb werden die Juroren Jahr für Jahr mit fast 500 Einsendungen überschwemmt, von der Nassauischen Presse über die Frankfurter Allgemeine bis Fit for Life.
Unberührt vom Wettkampffieber ist nur Peter Paul Müller, Mitglied der Schill-Partei und nur hier, weil er als Vizepräsident der hamburgischen Bürgerschaft eine der begehrten Einladungskarten erhalten hat. Im Privatleben ist Müller Gastwirt der Absturzkneipe „Erikas Eck“ auf St. Pauli, in der sich morgens um vier Uhr die Jungs vom benachbarten Schlachthof bereits die ersten Frikadellen des Tages einwerfen. Man kann, ohne als arrogant zu gelten, mit Fug und Recht annehmen, dass der Mann in seinem ganzen Leben noch keine Reportage von Anfang bis Ende durchgelesen hat. Aber es gibt Bier und einen Ehrenplatz nah am Rednerpult, und das ist für die Schill-Leute Anlass genug, sich einen schönen Abend auf fremde Kosten zu machen.
Ein schöner Abend wird’s dann aber vor allem nur für drei. Wer nicht Stefan Willeke, Kurt Kister oder Guido Mingels heißt und demnach nicht zu den Prämierten gehört, hat anschließend viel Gelegenheit, an der Bar etwas gegen das Vergessen zu tun. Für die anderen Gäste geht der Run auf das frisch gedruckte Buch vom Aufbau-Verlag los, das an diesem Abend als Geschenk ausgegeben wird.
Die Gelegenheit, meinen Orangensaft bei Herrn Osang loszuwerden, hatte ich leider nicht. Einer, der es wissen könnte, versichert mir, der Spiegel-Mann sei in diesem Jahr nicht nominiert worden, weil er „ja jetzt in New York Korrespondent ist und es zu teuer gewesen wäre, ihn extra deswegen einzufliegen“. Da ist sie plötzlich wieder, hautnah und nicht zu verdrängen: die Medienkrise.
fragen zu göttern? kolumne@taz.de