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peter ahrens über ProvinzAch wär ich einmal Hintermann gewesen

Härter als Völkerball ist nur Schwimmen mit den Jungs aus Salzkotten – aber zum Glück gibt es den Braunen Bär

Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen ein viel zu großes gelbes Auto über den Bildschirm fuhr, um das sich pockennarbige Betriebswirte und schuppenhaarige Jungjuristen scharten, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An den Eiswagen vor dem Freibad gegenüber dem Inselbadstadion, aus dem sich ein ähnlich unansehnlicher Mann wie der in dem gelben großen Auto beugte, um der Kindertraube um ihn herum Dolomiti und Brauner Bär anzudienen. Aus seinem Autokassettenradio sang Chris Roberts immer wieder „Ich tausch den Sommer gegen sieben Tage Regen“, was ich bereits damals für merkwürdig, geradezu subversiv in Zusammenhang mit einem Eisverkäufer hielt. Die Freude am eigenen Grünofant währte nur kurz. Genau bis zu dem Moment, bis die großen ungeschlachten Jungs aus den Umlandgemeinden, also Salzkotten und Niederntudorf, uns samt Eis/Stumpf und Stiel zwecks Ganzkörpertaufe ins Nichtschwimmerbecken befördern wollten. Die Flucht vor ihnen endete in einem rostigen Zaun und der Nachmittag bei einer Tetanusspritze. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Schwimmen war immer ein Graus. Der einzige Antrieb, es im Alter von zehn überhaupt irgendwann lernen zu wollen, war die Grundschullehrerin. Wenn sie dem Unterricht mal nicht aufgrund ihrer regelmäßig wiederkehrenden Migräneanfälle fern zu bleiben gezwungen war, schaute sie milden, müden Blickes auf die vor ihr sitzende Klasse und ließ durchblicken, dass Nichtschwimmen mit einem „ausreichend“, Sich-über-Wasser- halten können mit einer Drei, Freischwimmer mit zwei und Fahrtenschwimmer, vulgo Fahrten genannt, ein „sehr gut“ auf dem Zeugnis zur Folge habe. Motivation funktionierte damals eben noch auf diese Art. Pisa lag irgendwo weit weg hinter den Alpen und hatte einen schiefen Turm. Die Hälfte unserer Klasse hatte am Ende des Jahres einen Sticker mit zwei Wellen an der meist blauen Badehose und eine Eins auf dem Zeugnis, vulgo Giftblatt genannt.

Was zu der Frage führt, ob eigentlich Erdkunde von Schülern heutzutage immer noch „Erde“ genannt wird und Religion „Relli“ oder ob das auch nur noch den Inhalten nostalgisierender 70er-Jahre-Homepages www.meine70er.de vorbehalten bleibt. Bei denen übrigens auch gern verklärend auf die Namen vergangener Eissorten hingewiesen wird. Unter barmherzigem Verschweigen des Umstandes, dass Dolomiti wahrhaft abgrundtief schlecht schmeckte und dies unter Zehnjährigen damals auch uneingeschränkter Konsens war.

Schwimmen war nicht das einzige Übel für Jungs, die nichts Sehnlicheres wünschten, als gut im Sport zu sein, und nahezu täglich nichts deutlicher demonstriert bekamen als die Tatsache, nicht gut im Sport zu sein. Beispiel Völkerball (was zu der Frage verleitet, ob das heutzutage in Schulen überhaupt noch gespielt wird oder unter das Kapitel „Nazi-Sportarten, die in den 80er-Jahren den Geist aufgaben“, fällt. Querverweis siehe Prellball). Nur ein einziges Mal Hintermann sein, einmal von der eigenen Mannschaft als solcher erwählt zu werden. Das fällt unter das traurige Kapitel: Wünsche, die sich nie erfüllten. Hintermann wurde denn doch wieder Jürgen von nebenan, der auch im Fußball auf dem Schulhof der King war. Und selbst gehörte man zu der wie blöd hin und her gescheuchten Schafherde in der Mitte des Völkerball-Spielfeldes, für die nach fünf Minuten das Spiel ohnehin schon vorbei war: Abgeworfen, raus. Demütigung.

Über die Traumata, hervorgerufen durchs Turnen, durchs Klettern an der Stange und durch das alleinige Übrigbleiben bei der Wahl von Schulteams, darüber haben dickliche und unsportliche Zeitgenossen der Marke Heinz Rudolf Kunze bereits Kilos entsetzlich schwülstiger Prosa und abgehangener Lyrik abgesondert. Meist endet das ja bekanntermaßen damit, dass sie sich aus Verzweiflung über ihre körperlichen Defizite für Intellektuelle halten, Gitarren vergewaltigen und in zu Kulturzentren umgebauten Steinkohleabraumhalden einem gelangweilten Publikum aus halbgaren Erzählungen vorlesen, wie schwer ihre Kindheit in Osnabrück, Wuppertal-Barmen oder Haselünne war.

Hätten sie auch eine Grundschullehrerin gehabt, die Meisterin im Kurs war „Vom Nicht-zum Fahrtenschwimmer in zwei Wochen“, wäre dem gelangweilten Publikum einiges erspart geblieben.

Fragen zur Provinz?kolumne@taz.de

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