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ostseeurlaub etc.Glückliche Pärchen, freundliche Menschen: Der Berliner Autismus hat es auf Hiddensee nicht leicht

WITTGENSTEIN ON THE BEACH

Heißt die Hauptstadt der Insel Hiddensee Klosterfelde? Im Zweifelsfall ist Klosterfelde eher ein Galerist, meint meine Freundin Azra. SPD-Kunst und Berliner Galerienszene haben wir aber satt, also fahren wir nach Hiddensee. Die Züge nach Stralsund sind voll von potenziellen Rechtswählern und Berliner Liebespärchen. Man weiß nicht, was schlimmer ist. Je näher wir Richtung Ostseeinsel kommen, desto mehr Verliebte bleiben übrig: Sie hängt die Jacke auf, er guckt lobend.

Diese amourösen Tristessen sehen wir auf der Insel immer wieder, aber in großstadtmäßigem Einverständnis grüßt man einander nicht. Hier ist Urlaub. Dafür grüßen die auf dem Fahrrad vorbeifahrenden Dorfjungs. Vollgestopft mit Berliner Autismus begegnet man dieser Herzlichkeit nur linkisch.

Immerhin sind wir zu Striesows nett. Dort wohnen wir billig. Es ist so wie letztes Jahr: gestärkte Bettwäsche, Katzenbecher am Waschbecken, Frau Strisow läuft auf braunen Nylons durchs fernseherbeleuchtete Wohnzimmer und sucht das Formular für die Kurtaxe.

Und wieder hat alles zu. Nur in der „Stranddistel“ gibt es was zu essen. Wir ernähren uns zwei Tage von identischen Speisen, die teuer sind. Azra fasst zusammen: „Man sagt Grüß Gott, und es kostet 300 Mark“. Als wir sieben Frühstückskaffees bezahlen, befällt uns das Wittgenstein-Gefühl: „Wenn man mit Leuten redet, die einen nicht wirklich verstehen, fühlt man immer das man has made a fool of oneself, wenigstens ich. Und das geschieht mir hier immer wieder. Man hat die Wahl zwischen völliger Fremdheit & dieser unangenehmen Erfahrung“, schrieb er 1930 in sein Tagebuch.

Überall auf der Insel herrscht Themenpark Ostsee mit solch aberwitzigen Heimatmixgetränken wie Sanddorn-Curaçao. Alle besuchen ständig Kloster, den Hauptort, und gucken sich zum x-ten Mal das Gerhart-Hauptmann-Haus an.

Leider ist die warme Erholung schnell kaputtzukriegen. In Bergen stehen junge Skinheads auf dem Bahnhof, und ich wünsche mir, dass Azra, die Nichte des schönsten Manns vom Bosporus, ihre türkische Pizza schnell aufgegessen hat, damit sie, ich und der Imbissmann hier wegkönnen. Auf den Stralsunder Bahnsteigen passen Willige-Vollstrecker-Frauen in orangefarbenen Uniformen auf, dass man gefälligst irgendeine Unsinn-Unterführung benutzt. In Berlin ruft morgens um 7.30 Uhr ein Fremder mit Bankangestelltenstimme an, um ein „heißes Gespräch“ mit mir zu führen. Ich frage mich, was für eine Trefferquote er sich für solche Angebote um diese Uhrzeit ausrechnet. Mehr Sympathien hat der Rocker vom Fundbüro der Stabi. Als er Azra heute ihr verlorenes Federmäppchen wiedergab, sagte er zur Begrüßung: „Wir sind doch alle fertig mit der Informationsgesellschaft“.

KIRSTEN KÜPPERS

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