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normalzeitHELMUT HÖGE über Steglitzer Gelassenheit

Der Vorlesewettbewerb

Seit 27 Jahren bin ich nicht mehr in Steglitz spazieren gegangen – es hat sich dort nichts verändert, einiges ist im Gegenteil sogar schöner geworden. Das Rathaus wirbt immer noch mit dem Hinweis, dass von hier die Wandervogelbewegung losging, gegenüber das Kulturzentrum Schwartze Villa mit dem runden Autohaus, dahinter die Blindenanstalt, eine Abtreibungsklinik, ein teurer Italiener, das Frühstückscafé „Hoppegarten“ für ältere Damen, sowie das Bezirksamtshochhaus von Sigrid Kressmann-Zschach, die früher gern goldene Kühlschränke für die Partykeller von Parlamentariern stiftete.

Ich bin in die Rothenburg-Grundschule bestellt: als Juror eines Lesewettbewerbs der 6. Klassen. Es geht um die Schulmeisterschaft. Der Sieger bzw. die Siegerin nimmt am Bezirkswettkampf teil. Heute treten sechs Schüler gegeneinander an – mit selbst gewählten Texten: der selbstbewusste Felix mit einer kalifornischen Waldgruselgeschichte „das Hexenhandy“, die große Angelina mit einer Schwangeren-Stute-Story „Reiten in den Morgen“, der bürstenhaargeschnittene Thorsten mit einer dunklen Waldgeschichte „Der Werwolf ist unter uns“, der kindliche Robert mit der Michael-Ende-Geschichte „Der seltsame Tausch“, der mit seinen blonden Haarsträhnen an Rainald Goetz erinnernde Kevin mit der Detektivgeschichte „Ein schrecklicher Verdacht“, und die mittelgescheitelte, ernste Luisa, deren Pferdegeschichte „Ein flammender Stern“ von einer zugelaufenen Stute handelt.

Etwa acht Klassen bilden das Auditorium in der Schulaula, und die Jury setzt sich aus drei Schülern, einer erfahrenen Lehrerin und zwei Müttern sowie einem Journalisten zusammen. Organisatorin ist die Englischlehrerin Frau Schiller. Die Vorleser sitzen vor Mikrofonen auf der Bühne, davor wurden Turnkästen gestapelt, die man mit Topfblumen schmückte. Auf einen Flügel an der Seite hat Frau Schiller die Buchpreise und Erfrischungsgetränke für die Vorleser abgelegt. Bis es losgeht, diskutiert die Jury die neue Pisa-Studie, in der die deutschen Schulen gegenüber anderen europäischen und speziell beim Vorlesen im untersten Drittel landeten. Dementsprechend milde sind meine Urteile: Fast alle kriegen die Bestnote 5 in den Sparten Textgestaltung, -verständnis und Lesetechnik. Den anderen Juroren geht es ähnlich – die sechs lesen aber auch wirklich ihre Abenteuer-, Action- und Pferdegeschichten gut vor, sie unterscheiden sich nur in Appeal oder Appearance.

Deswegen lassen wir zum Schluss Thorsten, Robert und Kevin noch einen weiteren – diesmal unbekannten – Text lesen: eine japanische Beziehungsgeschichte zwischen einem Delfin und einer jungen Perlentaucherin. Am souveränsten meistert Thorsten den komplizierten Satzbau mit vielen fremden Worten – und wird deswegen Schulsieger. Er kann es nicht fassen. Alle applaudieren.

Ich schlender erneut durch Steglitz, zur U-Bahn zurück. Jeden Zweiten meine ich zu kennen. Auf einem kleinen Plakat erkenne ich wirklich einen: meinen alten Rote-Zelle-PH-Kader Lutz von Werder, nunmehr Lehrstuhlinhaber und Betreiber eines „philosophischen Cafés am Sonntagmorgen“. Hierhin lädt er alle zu seinem nächsten Thema ein, es heißt: „Dschuang Zi – Gelassenheit Üben!“ Trotz aller Sympathie kommt mir diese Werbung in Steglitz wie Eulen nach Athen tragen vor.

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