normalzeit: HELMUT HÖGE über Nebenerwerbsjobs
Meine Wannsee-Mucke
Dank des ehemaligen taz-Mitarbeiters Ronny Golz fand ich mich in der vergangenen Woche plötzlich als hochdotierter „Teamer“ der ÖTV wieder – im Ver.di-Bildungszentrum am Großen Wannsee. 36 Angestellte des öffentlichen Dienstes aus 17 Bundesländern verbrachten dort über Pfingsten ihren Bildungsurlaub. Sie wurden aufgeteilt in vier „Werkstätten“: Kreatives Schreiben, Theater und Kabarett, Malen und japanisches Tuschen sowie Zeitungmachen. Ich leitete Letzteres.
Nach dem Karneval der Kulturen besuchten wir erst einmal die taz, wo wir dann auf Geschäftskosten auch zu Mittag aßen, außerdem knipsten wir den Killer-Cockerspaniel der Leserbriefredakteurin – für unser Cover. In den Jahren davor hatte ich schon öfter solche Zeitungen gemacht – mit Betriebsräten, Steglitzer Gymnasiasten, polnischen Punks etc. Diesmal hatten wir jedoch nur fünf Tage Zeit, und außerdem waren die zehn Leute darauf programmiert, täglich um sechs Uhr Feierabend zu machen, und daneben wollten sie auch noch dies und das in der Großstadt erleben. Da kam ihnen mein nichtdirektiver Führungsstil direkt entgegen.
Bei der Eckkneipenforschung beschränkte sich einer auf ein paar kleine Internetrecherchen – zum Beispiel über die Fußballerkneipe „Holst am Zoo“. Zwei Schalkefans fuhren mit dem Fahrrad zum Olympiastadion und schrieben über die Spezialeinsatzgruppen, die dort nach der unblutigen Sicherung des Bush-Besuchs ein umso blutigeres Fußballturnier veranstalteten; dazu dachten sie sich auf die Schnelle ein Beckenbauer-Interview über die WM 2006 in Berlin aus.
Drei Arbeitsamtsmitarbeiter aus Goldenstedt besuchten eine Freundin, die in den Hackeschen Höfen eine Goldschmiedewerkstatt betreibt – und porträtierten sie anschließend. Ein saarländischer PDSler schrieb seine Impressionen von der Anti-Bush-Demo auf. Ich interviewte Rüdiger, einen 60-jährigen Kasernenwärter vom Truppenübungsplatz E 91 in Meppen, der sich in keiner der vier Werkstätten integrieren ließ und deswegen meist alleine auf der Veranda in der Sonne saß – und Edward Saids Buch „Am falschen Ort“ las.
Als „Gastkommentar“ nahmen wir einen Beitrag von Claudia aus der Werkstatt für Kreatives Schreiben ins Blatt: „Berlin im Mai“, der sich im Wesentlichen mit ihrer einstigen Berliner Jugendliebe – „Hermann der Statiker“ – befasste. Die wichtigste Person der Werkstatt war Conny aus Essen, der so schnell kein Thema eingefallen war, und die sich stattdessen an den Computer setzte, um alle unsere Texte und Fotos zu bearbeiten. Gleichzeitig musste sie auch noch die Leute aus den anderen Werkstätten wegbeißen, die ebenfalls an den Rechner wollten. Dieses „ungewerkschaftliche Verhalten“ wurde ihr anschließend von unserer Gruppe mit einer Flasche Wodka Gorbatschow belohnt. Ich bekam dagegen einen guten Rotwein zum Abschied geschenkt. Außerdem heimste ich unverdienterweise auch noch das Lob für die taz-Titelseite mit der Bush-Rede ein, die im ganzen Ver.di-Bildungszentrum Begeisterung auslöste. Anscheinend auch in Wannsee, denn schon um 9 Uhr 30 gab es dort nirgendwo mehr eine taz zu kaufen.
Abends saßen wir im kommerziellen Begegnungszentrum „Loretta am Wannsee“, wo sich nicht nur die gewerkschaftlichen Bildungsurlauber trafen, sondern auch die Stipendiaten des Literarischen Colloquiums, der American Academy und der nahen Yacht- bzw. Segelclubs. Vermisst wurde der Exkaufhauserpresser Arno Funke (Dagobert), der von dort aus einst wegen der Geldübergabe-Modalitäten mit der Polizei telefoniert hatte. Ich wollte den Zeitungsmachern wenigstens die Gelegenheit geben, mit ihm ein Telefoninterview zu führen – leider war seine Handynummer nicht mehr up to date.
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