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normalzeitHELMUT HÖGE über Reichweitenprobleme

Ein guter Lauf

„Ihm war das Missgeschick passiert, alt geworden zu sein, bevor er 30 wurde.“ Mit dieser Begründung wurde 1967 ein Mitglied der Situationistischen Internationale (SI) ausgeschlossen, wobei hinzugefügt sei, dass die SI sowieso lieber alte Leute ausschloss als neue aufnahm. Tatsächlich haben wir jedoch alle eine unterschiedliche „Reichweite“, ähnlich wie soziale Bewegungen, die oftmals sogar nur ein paar Jahre halten oder tragen. Bei der Alternativbewegung z. B. dauerte der Impuls bis zur Wende: Er verläpperte sich ideologisch im Übergang vom delfinischen New Age zur wölfischen New Economy.

Noch mehr erschrocken bin ich über einzelne Individuen: Wie schnell sie sich wandelten und wie kurz ihre Reichweite war … Es gibt anscheinend in allen Lagen nur ganz wenige Glückliche, „bei denen der Bindfaden, mit dem sie Pakete packen, nie fünf Zentimeter zu kurz ist“, wie es in einem berühmten Psychiatrieroman über diese seltene Spezies heißt, „die der Schmerz stets im Liegen trifft und der Witz, wenn sie dazu bereit sind“.

Bei mir selbst reichen einzelne gute Läufe mitunter nur über die Distanz von wenigen Stunden. Gestern war wieder so ein Tag: Alles ging mir leicht von der Hand. Und ebenso beschwingt eilte ich zum U-Bahnhof Kochstraße. Dort stand schon der Zug bereit. Ohne mich lange mit dem Fahrkartenkauf aufzuhalten, sprang ich hinein, zusammen mit einer Gruppe lachender Türken. Als die Bahn anfuhr, rief einer von ihnen: „Die Fahrkarten bitte!“ – und dann hielt mir eine der Frauen aus der Gruppe auch schon grinsend ihren Kontrolleursausweis hin. Ich lachte sie laut an und sagte: „Ich habe keinen!“ Ebenso fröhlich stiegen wir dann an der nächsten Haltestelle zusammen aus. Sie zückte ihr Notizbuch und baute mir dann allerhand rührende Brücken, damit ich doch noch ungeschoren davonkomme: „Haben Sie vielleicht eine Fahrkarte zu Hause?“ Nein, es half alles nichts: Ich bekam einen BVG-Vordruck zum Überweisen von 30 Euro – wegen Beförderungserschleichung oder so. Als altem BVG-Benutzer war das natürlich bitter für mich.

Inzwischen waren auch die Kollegen der Kontrolleurin hinzugekommen (ich war der einzige Schwarzfahrer im Waggon gewesen). Wir redeten eine Weile über dies und das, während die Kontrolleurin ihre Paraphernalien einsteckte und mich dabei weiter anlächelte: halb um Verzeihung bittend und um Verständnis, aber auch voll Dankbarkeit und fast Bewunderung, dass ich die ganze Zeit nicht meine gute Laune verloren, im Gegenteil: mich sogar fast gefreut hatte, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Sie war aber auch mehr als sympathisch. Als die Gruppe schon auf der Rolltreppe war, rief ich ihr nach: „Ach, kontrolliert ihr jetzt die Linie da oben?“ Daraufhin drehte sich die Frau um und sagte, mir zuwinkend, während sie auf der Rolltreppe langsam meinen Blicken und dem Zurückwinken entschwand: „Nein, wir gehen nach Haus, wir haben jetzt Feierabend. Sie waren mein Letzter. Tschüß!“

Ich setzte dann meinen Weg fort – in Richtung Pizzeria Da Flore am Kottbusser Damm. Dort war es auch noch ganz nett. Aber gegen Abend verläpperte sich der Schwung vom Tage doch langsam. Manchmal lässt er sich dann noch mit Haschisch wieder anturnen. Das geht übrigens auch vielen arabischen Händlern so, die deswegen spätnachmittags – vor dem letzten Kundenansturm – gerne noch mal schnell einen kiffen. Bei uns in Norddeutschland sagt man: „Morgens ein Joint – und der Tag ist dein Freund!“ Bei der taz ist das inzwischen ganz aus der Mode gekommen, was zeigt, wie weit dort inzwischen revolutionärer Schwung und evolutionäres Tagesgeschäft auseinander klaffen.

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