normalzeit: HELMUT HÖGE über Berliner Hinterhöfe
Vom Horror zur Idylle
Das Kreuzberger Haus, in dem ich wohne, gehört dem ehemaligen Adjudanten des Wüstenfuchses (Rommel). Und sein damaliger Adjudant ist heute sein Verwalter. Weil sie beide so alt sind, beschäftigen sie aber noch eine dynamische Hausverwaltung, die sie jedoch ständig wechseln.
Nur die Mieter bleiben, das heißt, wenn sie sich – hinten – nicht gelegentlich selber entmieten, indem sie zum Beispiel im Suff mit Zigarette einschlafen und alles in Brand setzen. Das geschah in unserem Seitenflügel schon zweimal. Die dritte Mieterzermürbung bewirkte ein verschlagener Bremer Architekt mit seinen endlosen Renovierungsmaßnahmen.
Im Vorderhaus ziehen die Leute dagegen nur aus, um sich wohnumfeldmäßig zu verbessern. Das ist aber auch schlecht: Pakete werden von dort nicht nach hinten ausgehändigt und man grüßt auch nicht. Das ist jedoch eine Binsenweisheit: dass die Elite längst asozial geworden ist – und die Unterschicht allein das Soziale noch trägt.
Man stelle sich nur mal Kreuzberg mit ausschließlich Deutschen vor: Es wäre die Hölle. Allein die Türken und ihre Spießigkeit inklusive Moscheen und Männercafés halten das einstmals erkämpfte Soziotop noch einigermaßen intakt.
In unserem Hinterhaus samt Seitenflügel und Remise leben vornehmlich Türken. Aber auch wegen Rommel viele Afrikaner – die meine Wohnungsnachbarin übrigens alle für den Mieterbund gewonnen hat. Eine sammelt alle auf den Hof abgestellten Altmöbel, Teppiche, Vorhänge etc. ein – und füllt damit einen Übersee-Container. Zuletzt wird der noch mit einem Zentner Alt-tazzen ausgestopft – und dann geht es ab nach Ghana, wo die Freundinnen unserer Nachbarin das Zeug wiederaufbereiten und auf dem Markt verkaufen. Die tazzen brauchen sie zum Einwickeln.
In der Remise wohnt eine junge Türkin, die leere Einwegfeuerzeuge sammelt – und nach Mexiko-Stadt schickt, wo ein Freund von ihr sich mit einem mobilen Einwegfeuerzeug-Wiederauffüll-Set selbstständig gemacht hat.
Vorne gibt es ein kurdisches Café mit Bäckerei, das Herrn Genc gehört, der sich als Gewerbetreibender ungerne mit den Mietern solidarisiert, dafür spielt er unentgeltlich den Hausmeister für alle.
Neulich brauchte ich wegen eines Kabelbrandes einen Elektriker. Herr Genc kannte einen – und der reparierte mir dann auch alles ganz prima. Als ich ihn fragte, was er dafür haben wolle und ob ich eine Quittung bekäme, damit der Hauseigentümer mir das Geld zurückgebe, schickte er mich zu Herrn Genc.
Dieser meinte dann: „Das mach ich selber mit dem Eigentümer klar, notfalls ziehe ich es von der Pacht ab.“
„Aber, Herr Genc“, sagte ich, „dass kann ich doch auch machen – es von der Miete abziehen …“
„Ach, ist schon gut!“
„Wie kann ich das wieder gutmachen?“, fragte ich ihn zuletzt.
„Behalten Sie mich in Ihrem Herzen“, antwortete Herr Genc.
Tief beeindruckt über so viel Nachbarschaftshilfe schlich ich in meinen Seitenflügel zurück.
Im Gegensatz zu den meisten Berliner Treppenhäusern brauchen wir hier keine subtilen Kenntnisse über Fußmattenmuster, um zu wissen, in welchem Stockwerk man sich gerade befindet, denn in unserem Treppenhaus steht auf jedem Flur ein anderes Möbel: im Hochparterre ein Nähmaschinentischchen, mit einem Faxgerät (statt einer Nähmaschine); im ersten Stock ein Kinderwagen (mit Spielzeug gefüllt); im zweiten Stock ein metallener Couchtisch ohne Glasplatte; im dritten Stock ein modernes Aktenschränkchen (von einer Frau, deren Beziehung auseinander ging und die daraufhin wieder zurück nach Böblingen zog – sie hatte um die Ecke gewohnt: wir wollten ihr ein Schränkchen abnehmen, sie bestand jedoch darauf, uns zwei mitzugeben); im vierten Stock schließlich stehen eine ausrangierte Waschmaschine und ein alter Computer im Flur. Das alles dient der Orientierung, zur Not geht es ab nach Ghana.
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