new york, new york: Gewerkschaftsstreik am Museum of Modern Art
DIE LINIE
„Making Choices“ heißt der Zyklus, mit dem das „Museum of Modern Art“ in New York derzeit seine Archivbestände der Öffentlichkeit zugänglich macht. „Prioritäten setzen.“ Wer an Pointen seine Freude hat, wird amüsiert feststellen, dass sich die Besucher bereits vor dem Betreten des Museums aufgefordert sehen, eine ganz andere Art von Prioritätenentscheidung zu fällen. „Auf welcher Seite stehen Sie?“, fragen dort seit 20 Tagen Streikposten jeden, der Anstalten macht, das Gebäude zu betreten. Gut ein Drittel der rund 650 Beschäftigten des Museums befindet sich im Ausstand. „Respect the Picket Line!“, lautet die Aufforderung, die selbst den ahnungslosen Touristen zum potenziellen Streikbrecher macht. Der Weg zu Picasso, Matisse und Warhol wird unerwarteterweise zur Gewissensentscheidung.
Die wenigsten Besucher zeigen sich jedoch bereit, ihren eng gesteckten Sightseeing-Plan umzudisponieren. Mit dem Flugblatt in der Hand betreten sie den Olymp und wissen dann wenigstens, dass auch das hehre Schaffen für die Kunst nicht ohne Lohnkämpfe vonstatten geht. Neben geforderten Lohnerhöhungen um fünf Prozent für dieses Jahr (und vier Prozent in den weiteren vier Jahren) geht es auch darum, Kürzungen in der Krankenversicherung zu verhindern.
Von einer besonders praktischen wie symbolischen Bedeutung ist dabei die Picket Line. Markiert wird sie vor dem Haupteingang von den mittlerweile im Schichtbetrieb ausharrenden Streikposten. Wer sie überschreitet, wird vielstimmig ausgepfiffen und von einer inneren Stimme möglicherweise ermahnt, das Verhältnis von Kunst und Politik neu zu überdenken. Jederzeit sicht- und hörbar liegt die Hauptaufgabe der Picket Line zweifellos in ihrer Funktion als Hemmschwelle.
Die Mehrzahl der Beschäftigten – nicht in der Gewerkschaft, daher auch nicht im Streik – muss jeden Morgen diese Linie überschreiten und vollzieht dieses Ritual mit zunehmender Beklemmung: Die gesamte Arbeitszeit trägt das Stigma der Solidaritätsverweigerung. Diesseits der Linie (oder jenseits: die Frage ist ja, wo man steht) legt einem die Informationspolitik der Arbeitgeberseite freilich eine freundlichere Interpretation ans Herz: mit dem Überschreiten der Linie beweise man die Loyalität zur „Sache“, die gerade in diesen Tagen wie nie zuvor glorifiziert wird. „Nichts wird uns davon abhalten“, so Museumsdirektor Glenn Lowry unlängst in einer Pressemitteilung, „unsere Mission zu erfüllen.“ Dennoch weiß man auch auf dieser Seite der Front um die Macht der Hürde und ist deshalb bemüht, der Aktion entgegenzuarbeiten. So sind seit Beginn des Streiks die Dienste der Hauskantine kostenlos, um denen, die ihre Pflicht tun, den mittäglichen Gang vor die Tür und damit über die Linie zu ersparen.
Mit dem gleichen leicht dramatisierenden Argument wurde vor wenigen Tagen eine Benefizveranstaltung mit der Rocksängerin Sheryl Crow abgesagt, von der sich das Museum eine beträchtliche Finanzspritze erhofft hatte: Der Künstlerin sollte der lästige Schritt über die Linie erspart werden. Pikanterweise war jedoch das im Anschluss an das Konzert geplante Festessen bereits bezahlt und geliefert. Kurzerhand wurde auch aus dieser Not eine Tugend gemacht: Per Hauspost, E-Mail und „Hast du schon gehört“ fand sich die loyale Belegschaft zu einem kostenlosen Festbuffet geladen, das von gut aussehenden Menschen im Frack gereicht wurde. Spätestens über dem dritten Martini wird sich der eine oder die andere vielleicht an Luis Buñuels „Würgeengel“ erinnert haben. Was, wenn das letzte Schaf geschlachtet ist? Ein Ende des Streiks ist derzeit nicht in Sicht, und es bleibt abzuwarten, ob die Linie Metastasen entwickelt, neue Fronten, die sich wohl eher nach innen verästeln werden als nach außen. TOBIAS HERING
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen