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nebensachen aus washingtonEin Land im Kaffeerausch: Die Lattefizierung der Vereinigten Staaten schreitet voran

„Gimme a grande skim double hazelnut latte“

Vergangenen Sonntagnachmittag in Georgetown, dem schicken Vergnügungs- und Akademikerviertel der US-Hauptstadt. Nachts hat es geschneit, die Sonne glänzt vom blauen Himmel. Bei Starbucks steht schon eine Schlange vor der Kasse. Alle wollen einen Pappbecher Kaffee – nein, nicht so eine säuerlich-trübe Brühe, wie es sie bei den Hamburgerketten für 59 Cents gibt. Sie wollen einen „double shot macchiato“ – einen doppelten Espresso mit ein wenig Milch, einen „tall skim capuccino“, das ist ein kleiner (!) Capuccino, aber mit entrahmter Milch, oder gar einen „grande double shot regular latte“, einen mittelgroßen Milchkaffee, doppelte Espressomenge, normaler Fettgehalt. Mittelgroß, das bedeutet wohlgemerkt das Volumen eines durchschnittlichen Papierkorbs und einen Preis, der die Dreidollarmarke überschreitet. Wichtig ist, dass „latte“ mit langgezogenem e gesprochen wird, das klingt dann wie „lattääh“. Fünf Leute stehen vor der Kasse, zehn an der Ausgabe, gedrängt um die große zischende, gurgelnde italienische Kaffeemaschine. Wie behält der junge Mann dahinter nur den Überblick über die drei Größen, fünf Zubereitungen und sieben Beimischungen, die seine koffeinabhängigen Kunden wünschen – sofern sie nicht die amerikanische Angst vor chemischen Stimulanzien teilen und noch ein „decaf“ in ihre Bestellformel eingeflochten haben?

Der recherchierende Blick des Beobachters durchschaut es erst nach einer Weile: Der chinesische, nuschelnde Kassierer ruft dem Kaffeekoch eine Bestellung nach der anderen zu: „Gimme a grande skim double hazelnut latte“ – übersetzt: einen mittleren Milchkaffee, mit fettloser Milch und doppelter Portion Haselnusssirup, der schnappt sich dann einen der Papierkörbe und kreuzt mit einem Filzstift mehrere Felder auf dem Behälter an. Anschließend reiht sich das Trinkgefäß in eine lange Warteschlange auf der Kaffeemaschine ein. An einem Tag wie dem vergangenen Sonntag können zehn, fünfzehn Minuten vergehen, bis der Becher sich an die vorderste Position vorgearbeitet hat.

Es hat lange gedauert, bis die italienische Kaffeekultur sich in den USA durchgesetzt hat, dafür hat sie inzwischen ihre wahre US-amerikanische Form gefunden: Noch mehr Varianten, alles drei- bis fünfmal so groß. Und an jeder Ecke duftet es nach gerösteten Bohnen. Das gilt allerdings nur für die dicht besiedelten urbanen Küstenregionen und die Universitätsstädte, dazwischen ist der Kaffee weiter säuerlich-trübe und dünn.

Wenn man die Landkarte mit den Counties anschaut, die im November für Al Gore gestimmt haben, so sind dies auch die Counties mit komplizierten Kaffeevarianten und hohem Koffeinverbrauch. Wahrscheinlich – um diesen Gedanken noch zu Ende zu führen – wären am 7. November genug Stimmen für Al Gore zusammengekommen, wenn nicht so viele seiner Wähler bei Starbucks in der Schlange gestanden und auf ihren „Tall decaf skim hazelnut latte“ gewartet hätten.

STEFAN SCHAAF

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