nebensachen aus tel aviv : Organisierte Flucht vor dem gefillten Fisch
Zwei Fragen gelten als typisch israelisch. Die eine dient der Information: „Wo hast du in der Armee gedient?“, lautet sie und gibt dem Fragenden Einblick in einen wichtigen Teil der Biografie des Gegenübers. Die andere hat für den Gefragten überragende Konsequenzen. „Wo verbringen wir die Feiertage?“, fragen sich junge Paare vor den zahlreichen jüdischen Feiertagen. Bei den Eltern von ihr oder ihm, heißt die Frage genauer, und es wird tagelang darüber gestritten, legt sie doch maßgeblich den Einstellwinkel eines schiefen oder wohl justierten Haussegens fest.
In Israel wird der Jahresrhythmus von den religiösen Feiertagen diktiert. Zu Rosch Haschana beispielsweise feierte man vergangene Woche das neue Jahr, nächste Woche steht der Fastentag Jom Kippur an, an dem die Gläubigen sich mit Gott und Nachbar versöhnen sollen.
In diesen Tagen sind alle in feierliches Weiß gekleidet, Lederschuhe verpönt. Doch der Teufel steckt im Detail, und wie genau die Feiertage begangen werden, hängt ganz davon ab, woher die Eltern stammen.
Böse Zungen behaupten, dass man alle jüdischen Feiertage mit einem kurzen Motto erklären kann: „Sie wollten uns töten, wir haben überlebt, was gibt’s jetzt zu essen?“ Tatsächlich ist das gemeinsame Abendmahl Hauptprogrammpunkt der meisten Feste, und hier scheiden sich die Geister. Nehmen wir den „gefillten Fisch“ zum Beispiel, diese glorifizierte, kalt gereichte und reichlich gesüßte jüdische Fischfrikadelle, die meistens mit einem wacklig-glibberigen Film von Gelatine und zerkochten Möhrchen überzogen ist. In den Augen der aschkenasischen Großmutter, also einer Jüdin, deren Vorfahren aus Osteuropa stammen, ist der oft fade gefillte Fisch ein Eckpfeiler des Festtagsessens. Man kann sich leicht das Entsetzen ausmalen, mit dem ein Jude, dessen Eltern aus arabischen Ländern einwanderten und dessen Zunge nicht von klein an trainiert wurde, sich den Geschmack dazu zu denken, auf das graue schwabbelnde Etwas auf dem Teller vor ihm reagiert. Umgekehrt lösen die deftig gewürzten Speisen der arabischen Juden, bei Aschkenasen nicht nur ein Feuer im Schlund, sondern auch anhaltendes Sodbrennen aus.
Und das ist erst die Vorspeise! Hausfrauen haben sich über die Jahrhunderte allerlei ausgefallene Gerichte einfallen lassen, wohl um ihre Gatten davon zu überzeugen, sie beim nächsten Neujahr nicht mehr in die Küche zu schicken. Wenn Rinderlungen gereicht werden, um die Hoffnung auf fortan nur mehr „leichte Sünden“ zu versinnbildlichen, vergeht vielen die Esslust.
So entscheidet die Antwort auf die Frage: „Wo sind wir zu den Feiertagen?“ also nicht nur darüber, wessen Eltern nun dieses Jahr beleidigt sein werden, sondern oft auch darüber, wer nach diesem Feiertag hungrig ins Bett steigt. Kein Wunder also, dass immer mehr israelische Paare versuchen, sich diesem Dilemma zu entziehen. Nicht umsonst verlässt an diesen Tagen alle 50 Sekunden ein Flugzeug das Land. Die Lieblingsantwort auf die schwerste Frage in Israel lautet nämlich neuerdings: „Gott sei Dank im Ausland.“ GIL YARON