nebensachen aus prag : Der Karpfen, die Tradition und das weihnachtliche Fest
Es naht das Fest der Liebe – und in einem sonst recht friedliebenden Volk erwacht die Blutlust. Markt und Gassen der tschechischen Hauptstadt verwandeln sich dabei in kleine Schlachthöfe.
Noch ziehen die Verdammten stoisch ihre Runden – eng gedrängt in großen Bottichen, Tag und Nacht strengstens bewacht. Die Rede ist von Cyprinus Carpio, vulgo der Karpfen. Bald nun werden sie auf offener Straße erschlagen, ausgenommen und zerlegt werden. Oder lebend ihrem Schicksal übergeben, um ihres Schicksals in halbgefüllten Badewannen zu harren. Denn es naht der Heilige Abend, der Lebenszweck des Weihnachtskarpfens in Böhmen. Dick paniert und frittiert, mit einer Beilage aus einem Mayonnaisesalat-Gemisch aus Kartoffeln, Erbsen, Karotten, Sellerie und was die Fantasie der Köchin sonst noch hergibt, wird er nun das Weihnachtsfest eröffnen. Ohne Karpfen ist Heiligabend einfach unvorstellbar. Wie Pilsner Urquell ohne Schaum. Wie Karel Gott ohne Biene Maja. Von der Präsidentenresidenz bis zum Plattenbau – der Fisch kommt am 24. 12. auf den Tisch. Nichts eint die tschechische Nation so wie der Weihnachtskarpfen.
Es ist ein öffentliches Schauspiel, das sich da abspielt – auf dem Wenzelsplatz oder gleich hinter der Karlsbrücke, im Schatten der Teyn-Kirche ebenso wie in der als Rotlichtviertel verrufenen Perlova-Gasse. In dünnen Rinnsalen fließt das Blut zwischen den Pflastersteinen der Altstadt, bis es sich mit deren Staub vermischt oder barmherzig von Regen oder Schnee weggespült wird. Schon das ist Teil des traditionellen Rituals. Der Weihnachtskarpfen muss lebend begutachtet und nach wohlüberlegter Auswahl schließlich erstanden werden. Dafür kommen die Karpfenhändler eigens aus den Teichlandschaften Südböhmens angereist. Sie erlegen und zerlegen am Tage und wachen die Nächte an der Seite ihrer nassen Schützlinge durch. Denn wenn der Bottich mal steht, dann bleibt er auch stehen – bis zum letzten Karpfen.
Die ganz findigen unter den Händlern bieten Karpfenpartys für Firmen an. Eine Mischung aus Weihnachtsfeier und Bonding-Ritual: die Firmenbelegschaft geht gemeinsam zum Karpfenbottich und jeder darf sich seinen Fisch selbst aussuchen und sogar selbst angeln. In der Natur ist das Karpfenangeln ein regelrechter Kraftsport geworden. Dort kämpft der schwere Fisch wild um sein Leben und kommt auch oft mit ihm davon. Ist er erst einmal auf den Straßen Prags, weit weg von seinem schlammigen Teich, hat er sich seinem Schicksal längst ergeben. Kaum wehrt er sich, wenn er aus dem Bottich gezogen wird, mit ruhiger Flosse erwartet er den erlösenden Schlag. Es ist schon ein fieser Vorteil, den der Mensch hier vor dem Tier hat.
Weihnachten selbst ist hier im atheistischen Böhmen nicht mehr als eine Tradition. Derzuliebe ändert man gerne seine Gewohnheiten. Man isst Fisch anstelle von Fleisch und geht in die Kirche anstatt ins Theater oder Konzert. Pech für den Fisch, Glück für den Fischer. Frohes Fest und Vesele vanoce.
ALEXANDRA KLAUSMANN