nebensachen aus mexiko-stadt: Über das Gegenteil des Tempolimits
Drunter oder drüber
Drunter oder drüber, mit dieser Frage werden die Bewohner der mancha urbana, des urbanen Flecks, wie es in den Stadtstatistiken immer so schön heißt, seit Wochen in eigentümlichen Fernsehspots behelligt. „Fahr doch über mich drüber“, brüllt da ein entnervter Autofahrer in Richtung des hinter ihm hupenden Gefährts. „Keine schlechte Idee“, schaltet sich im Off eine Frauenstimme dazu. Und fügt die wunderliche Aufforderung hinzu: „Fahren wir doch alle drüber.“
Es ist die Stadtregierung, die für ihren bizarr anmutenden Plan wirbt: Die Stadtautobahn mit einem zweiten Stockwerk zu versehen. Und das ist kein „schlechter Witz“, wie anfangs noch so mancher gehöhnt hatte. Die „Stadt der Hoffnung“, wie der neue Bürgermeister die Monstropolis trotzig zu nennen beliebt, hat in der Tat ein Problem: auf ihren Stadtautobahnen, auf denen tagtäglich an die drei Millionen Autos im Schritt- bis Schneckentempo dahinwälzen, geht es gewissermaßen um das Gegenteil des Tempolimits – nämlich um Beschleunigung. Um die Automassen schneller voranzubringen, soll jetzt der Doppeldecker her – Abgase hin, Ästhetik her, vom Erdbebenrisiko ganz zu schweigen. Das letzte Wort, so der Bürgermeister listig, habe selbstverständlich Volkes Stimme. Deren Votum war kürzlich per Telefon ermittelt worden: Knapp 60.000 sollen den Telefonfräuleins ihr Ja in den Hörer diktiert haben, ein knappes Prozent der registrierten Wahlberechtigten.
Dies ist übrigens schon die dritte Volksbefragung, die der passionierte Basisdemokrat ( „Wir wollen keine Macht ohne Volk“) in Auftrag geben lässt: zunächst ging es allen Ernstes um die Frage, ob in der Hauptstadt im Sommer die Uhren vorgestellt werden sollen, ein paar Monate später wurde die Erhöhung der U-Bahn-Tarife abgestimmt – und vom befragten Volke, mit etwa derselben Wahlbeteiligung, ebenfalls abgesegnet. Dass ausgerechnet ein eher puritanisch gesinnter Linker seinen autofahrenden Bürgern nun partout freiere Fahrt bescheren will, ist nur eine der Ironien der Geschichte. Wie auch das Gekreisch bei Unternehmern und konservativer Opposition, die den Linken als skrupellosen „Autolobbyisten“ enttarnen und nie gehörte Loblieder auf U-Bahn-Fahren und Fahrradwege zu singen beginnen – zwei Fortbewegungsarten, die Besserbetuchte in Mexiko um nahezu jeden Preis meiden.
Der angrenzende Bundesstaat, der verwirrenderweise ebenfalls Mexiko heisst, präsentierte dieser Tage ein ähnlich visionäres Vorhaben. Diesmal drunter: knapp dreißig Kilometer der ewig verstopften Zufahrtsstraße in die Hauptstadt sollen baldmöglich untertunnelt werden. Doch auch dieser Vorschlag erntete vorerst entgeisterte Reaktionen. Wie etwa den mysteriösen Vorwurf einer renommierten Architektenvereinigung, die Regierung betreibe „Bauvorhaben im Afghanistan-Stil“.
Vielleicht sollten die mexikanischen Stadtplaner doch wieder auf altbewährte Mittel zurückgreifen. Vor vielen Jahren hatte sich der Platz auf einer bis dahin zweispurigen Schnellstraße quasi über Nacht um ein Drittel erhöht – findige Straßenbauingenieure hatten den Mittelstreifen kurzerhand überpinselt und rechts und links durch zwei neue ersetzt. Das war wahrhaft magischer Realismus. ANNE HUFFSCHMID
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