nebensachen aus caracas : In Venezuela ticken die Uhren bald anders
Revolutionen brauchen Symbole. Hugo Chávez sind sie schon immer ein Herzensanliegen gewesen. Bei der Verabschiedung der neuen Verfassung 1999 wurde der Republik Venezuela nach dem Nationalhelden Simón Bolívar (1783–1830) das Adjektiv „bolivarianisch“ vorangestellt, und seit vorigem Jahr galoppiert der Schimmel im Staatswappen nach links.
Jetzt hat der Präsident die Zeitrechnung ins Visier genommen. „Die Kinder kommen doch todmüde in der Schule an“, sagte er in seiner Liveshow „Aló Presidente“. Deswegen sollen die Uhren demnächst um eine halbe Stunde zurückgestellt werden. Venezuela läge dann nicht mehr fünf, sondern 5,5 Stunden hinter MEZ – wie schon 1912–1965. Wie seinerzeit die französischen Jakobiner mit ihrem Revolutionskalender will Chávez signalisieren: Eine neue Ära ist angebrochen, bei uns gehen die Uhren anders!
Die „wissenschaftliche“ Rechtfertigung lieferte Forschungsminister Héctor Navarro. Die Umstellung sei „der Gesundheit höchst zuträglich“, denn „Teile des menschlichen Stoffwechsels synchronisieren Wachstum und intellektuelle Tätigkeit mit dem Sonnenlicht“, das hätten „anerkannte Studien“ ergeben. Umgekehrt habe die letzte Zeitumstellung 1965, die zudem auf Druck privater Firmen erfolgt sei, eine „Desynchronisierung“ befördert und damit diverse Störungen bei Kindern und Erwachsenen. Mag ja alles sein, aber Belege für Navarros Behauptungen haben die Venezolaner bislang noch nicht gesehen. Wäre es nicht einfacher, den Kindern zuliebe den Schulbeginn von sieben Uhr auf halb acht oder acht zu verschieben?
Die Meinungen sind geteilt: Víctor Rodríguez, Direktor des Observatoriums von Maracaibo im äußersten Westen des Landes, sieht die Chance zu Energieeinsparungen. „Das wird dem Land nützen“, meint der Astronom, der betont, er sei kein Chavista. Ganz falsch, hält José Farfán von der Universität des Ostens in Ciudad Guayana dagegen, wo die Sonne fast eine Stunde früher aufgeht als an der Grenze zu Kolumbien, Zeitumstellung hin oder her. Für eine „Energierevolution“ müssten die Uhren nicht zurück-, sondern vorgestellt werden, am besten eine Stunde. Wie bei der Sommerzeit in Europa würde in den Abendstunden Strom gespart.
Die meisten Venezolaner nehmen die geplante Änderung gelassen, eine breite Debatte ist ausgeblieben. Für Chávez passt die Zeitumstellung gut zu einem weiteren Projekt, das er in der Verfassung festschreiben lassen will: dem Sechs-Stunden-Tag und der 36-Stunden-Woche. Davon erhofft sich der linke Caudillo Produktivitätssteigerungen, positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt – und eine höhere Lebensqualität für die Bevölkerung. Man wolle „das Land und das soziale Leben viel rationaler, gesünder und menschlicher organisieren“, fasst das „Nationale Zentrum für technologische Innovation“ zusammen.
Zunächst war die Zeitumstellung für den Jahreswechsel angekündigt. Vielleicht ist es aber schon zum Schuljahresbeginn in einer Woche so weit – das hat Erziehungsminister und Präsidentenbruder Adán Chávez angedeutet. GERHARD DILGER