nebensachen aus brüssel : Ein Dachschaden reguliert den politischen EU-Wanderzirkus
Das Parlament ist wesentlicher Bestandteil eines demokratischen Staatswesens. In Europa, das Demokratie als seine Kernkompetenz ansieht, sollte das genauso gelten wie in den Mitgliedstaaten. Doch häufig sind die Abgeordneten unfreiwillig auf Reisen, während die Staats- und Regierungschefs in Brüssel wichtige Entscheidungen treffen.
Beinahe wäre es auch heute so gekommen. In Brüssel beraten die 27 Regierungschefs bei einem Sondergipfel über die Kaukasuskrise. Die Abgeordneten müssten von Rechts wegen längst im Bummelzug nach Straßburg sitzen. Fünf Stunden Gezuckel ohne Handyempfang. Wer per Pkw anreist, müsste stundenlang hinter dem Steuer klemmen, statt Akten zu studieren. Wenn man von Finnland oder Sizilien kommt, kann es günstiger sein, bis Frankfurt zu fliegen und von dort aus einen Mietwagen zu nehmen.
Das EU-Parlament ist die einzige Volksvertretung in Europa, die ihren Tagungsort nicht selbst bestimmen darf. 12 Sitzungen im Jahr muss sie in Straßburg abhalten, die übrige Zeit darf sie in Brüssel bleiben. So wollen es die EU-Verträge und vor allem die Franzosen. Schließlich sind sie ein Kernland der Union, dem es zusteht, eine wichtige Institution auf ihrem Territorium zu beherbergen – und der wirtschaftliche Nebeneffekt für das Elsass ist nicht zu verachten.
Doch nun scheinen die Götter dem französischen Hochmut einen Dämpfer verpassen zu wollen. In der Sommerpause ist im Plenarsaal in Straßburg ein Teil der Decke eingestürzt. Die Reparatur dauerte drei Wochen. Ausgerechnet unter französischer Ratspräsidentschaft kommt dadurch zusammen, was zusammengehört: Regierungsvertreter und Volksvertreter tagen heute in derselben Stadt. Der Parlamentspräsident kann dem Rat den Standpunkt seines Hauses vortragen, wie es Brauch ist, und anschließend ein paar hundert Meter weiter die Sitzungswoche eröffnen. Die Abgeordneten können im Ratsgebäude herumspazieren, Informationen aus erster Hand erfahren und mit Journalisten reden. Wer sich für ihre Meinung interessiert, kann sie anrufen oder im Büro aufsuchen.
Eine Mehrheit der Abgeordneten ist längst der Meinung, dass ein modernes Parlament so arbeiten sollte. Viele Straßburg-Gegner konnten ihre Schadenfreude nicht unterdrücken, als der Deckeneinsturz bekannt wurde. Sie hoffen auf weitere bauliche Pannen und dass ihnen auch in der nächsten Sitzungswoche der Wanderzirkus erspart bleibt. Mehr als eine Million Bürger haben sich im Internet dafür ausgesprochen, den Parlamentssitz Straßburg aufzugeben. Schließlich kostet es 200 Millionen Euro im Jahr, all die Unterlagen einzupacken und für eine Woche ins Elsass zu verfrachten. Von den 20.000 Tonnen Kohlendioxid, die zusätzlich in die Atmosphäre geblasen werden, ganz zu schweigen.
Mit Bauhelmen wollen die Straßburg-Gegner heute vor das Ratsgebäude ziehen und an die französische Ratspräsidentschaft appellieren. Bislang war Paris in dieser Frage beinhart.
Der britische Abgeordnete Chris Davies hat bereits die Hoffnung aufgegeben, dass die Franzosen Vernunft annehmen. Er will die 12 Sitzungen in Straßburg künftig an einem Tag über die Bühne bringen – pro Stunde eine.
Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering wird da nicht mitmachen. Schließlich ist er ein Parteifreund von Nicholas Sarkozy. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass die EU-Abgeordneten weiterhin nach Straßburg zum Spielen geschickt werden, während die Erwachsenen in Brüssel Beschlüsse fassen. DANIELA WEINGÄRTNER