montagsmaler Schlaflos im Prenzlauer Berg: Abends im „Schusterjungen“
Ich frage mich immer, ob man wirklich ein erfülltes Leben hat, wenn man wie Niklas Luhmann, um Zeit zu sparen, am liebsten Schokolade isst, weil man dafür nur eine Hand braucht und die andere zum Umblättern frei hat. Ich jedenfalls werde immer fauler und überlege schon, ob ich wirklich Urlaub machen sollte oder ob ich nicht dasselbe damit erreichen würde, mich im Bett ein paar Nächte lang ans Fußende zu drehen.
Immerhin räume ich nun schon seit drei Wochen am Sonnabend die Wohnung auf, so dass ich mich permanent wie im Urlaub fühle. Denn früher, wo einen nach der Schule zu Hause als erstes volle Mülleimer erwarteten, war unsere Wohnung am saubersten, bevor wir wegfuhren, damit man einen Grund hatte, sich auf die Rückfahrt zu freuen. Das Highlight ist eindeutig der saubere Kühlschrank.
Leider stört der Nachbar von oben die Idylle. Mich wundert immer, dass es Erstaunen auslöst, wenn ich verkünde, dass es mich weniger Überwindung kosten würde, ihn nachts um vier durch die Decke zu erschießen, statt ihn zum vierten Mal zu bitten, seine 120 Bässe pro Minute leiser zu stellen. So sind wir eben in unserer Familie, immer ein bisschen zurückhaltend. Der Versuch, dem Krach zu entkommen und am Nachmittag im Prenzlauer Berg eine Kneipe zu finden, mit der man sich eventuell identifizieren könnte, scheitert zum wiederholten Mal. Sie müsste ja auch eigentlich leer sein. Aber das Frühlingswetter scheint die unsympathischen Menschen zu ermutigen, sich öffentlich zu zeigen. Mit sarkastischem Lächeln fahre ich den ganzen Bezirk ab, mich geht das doch schon lange nichts mehr an.
Am Ende lande ich in der noch leeren neuen Wohnung meiner Schwester und versuche an „Ingo“, ihrem Ikea-Tisch, in Ruhe zu arbeiten. Ihr Freund hat mir Ohrstöpsel aus Amerika geschenkt, er hatte ein ganzes Glas davon, sie sahen aus wie grüne Schaumgummibonbons. Da ich in dieser Woche jede Nacht geweckt worden bin, lege ich mich nach wenigen Minuten im Dunkeln auf die kalten Dielen in den Staub, die Türen werden gerade abgeschliffen, und schlafe ein. Abends im „Schusterjungen“ erzählt mir Hortkind Konrad von „Leseepilepsie“, einer Krankheit, bei der man zwar schreiben kann, aber vom Lesen Anfälle bekommt. Ich denke, ich habe das auch, aber nur bei meinen eigenen Texten.
Der Wirt erklärt uns, dass Ragout fin aus Kalbfleisch besteht, Würzfleisch dagegen aus Schweinefleisch. Ich esse trotzdem Steak Hawaii und beobachte am Tisch hinter uns den traurigen Wirt der „Schildkröte“, der ihre weltberühmten Bratkartoffeln nicht zum Durchbruch zur Szenekneipe gereicht haben. Anscheinend geht jetzt nicht einmal mehr er selbst dorthin. Wir reden über Autos, die man sich nie leisten können wird, Frauen, die nur Typen mit Autos wollen, die Frage, ob man als Berliner etwas Besseres ist oder im Gegenteil der Idiot. „Wer kommt denn schon Berühmtes aus Berlin?“ – „Na, Rocky, der Sohn eines sardischen Eisenbiegers.“ – „Rocky …“ – „Wir haben’s eben nicht nötig.“ – „Und was soll daran gut sein? Ich hab schon mit sechs hier im ,Schusterjungen‘ gesessen, und jetzt sitze ich immer noch hier, ist doch bekloppt.“
Ein anderer erzählt von seinem Versuch, in einer Berliner Kneipe ein Bauernfrühstück zu bestellen. „Bist du bescheuert? Die Küche is zu!“, erhielt er vom Wirt als Antwort, seiner Meinung nach, weil er die Kneipe mit einer „Mütze ohne Bommel“ betreten hatte. Wer traditionsbewusst speisen will, muss leiden. Die neue Zeit geht auf Plateausohlen an uns vorbei und die alte will uns nicht mehr. Manchmal frage ich mich, ob es nicht zu weit geht, dass ich sogar, wenn ich mich an meine alten Geheimnummern erinnere, nostalgisch werde.
JOCHEN SCHMIDT
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