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modernes lesen: neue bücher kurz besprochen von Gerrit Bartels

Vielgestaltig ist das Bild, das in diesem Frühjahr viele ostdeutsche Autoren und Autorinnen von der DDR zeichnen. Die einen arbeiten sich, es sind meist die Älteren, ernsthaft und mitunter verbissen an dem Staat und seinem Sozialismus ab, an dessen herben Verfehlungen und den eigenen persönlichen Verstrickungen. Über sie und ihre Bücher ist gerade auf der Leipziger Buchmesse viel geredet und geschrieben wurden, über Christa Wolf, Hermann Kant, Volker Braun oder Sascha Anderson. Doch über zwölf Jahre nach der Wende warten gerade in diesem Frühjahr auch einige jüngere Schriftsteller mit ersten oder zweiten gelungenen Büchern auf. Sie nehmen sich heraus, nicht unter der Maßgabe von Parteidiktatur, Mauer und Schießbefehl ihre Erinnerungen, Geschichten oder Romane zu verfassen. Der ostdeutsche Alltag steht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, die präzise oder auch frei schwebende Erinnerung an Kindheit und Jugend, die naturgemäß von den Schrecken des Mauerstaats noch nicht so dominiert ist. Das hat schnell auch zu harscher Kritik geführt. So musste sich Falko Hennig letzte Woche in der Zeit „Folklore“, „Possierlichkeit“ und Schlimmeres vorwerfen lassen: „Wer so arglos durch Ostberlin streunt wie Falko Hennig“, hieß es dort, „der betreibt Geschichtsrevisionismus.“ Knüppel aus dem Sack und Vorwürfe, wie sie seinerzeit auch Thomas Brussig für seinen Roman „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ anhören musste. Da hat sich, so scheint es, in der Rezeption wenig geändert: Wer einen Witz macht, wer mit den Mitteln der Groteske arbeitet, wer sammelt und archiviert, wer sich nur in Subszenen herumtreibt und die Stasi einfach mal ausblendet, wer sich nicht hartnäckig und unter Einsatz seines Lebens mit der DDR und ausschließlich ihrem Schrecken auseinander setzt, ja, wer sich nicht gleich an einem ultimativen ostdeutschen Wenderoman versucht, dem wird Verharmlosung, Ignoranz, Nostalgismus oder Schönfärberei vorgeworfen, der wird gewogen, zu leicht befunden und mit Missachtung nicht unter fünf Jahren bestraft. Die Wahrnehmung jüngerer Autoren, die qua Geburt ausschließlich auf die späten Siebziger- und die Achtzigerjahre sowie die Nachwendezeit gerichtet ist, unterscheidet sich jedoch erheblich von der älterer Autoren; ihr Ton ist ein anderer, ein leichterer, mitunter auch ein zynischerer; sie wissen, dass ihre Erinnerungen keinen Allgemeingültigkeitsanspruch haben, dass diese einerseits eine kreative Eigendynamik haben und andererseits immer auch den Gesetzen der Gewohnheit und des Vergessens unterworfen sind; und sie sind fest entschlossen, aus noch so abseitigen Nebensächlichkeiten das Wesen der DDR, wie sie es kennen gelernt haben, zu filtern: erste rote T-Shirts und die Sommerferien in Pionierferienlagern namens „Freundschaft“, die Musik von Soft Cell oder The Cure (ja, genau!) und die Putzi-Zahncreme, die Wimpel vom BFC Dynamo und die Arbeitseinsätze als Schüler in Industriebetrieben.

Der Autonarr

Falko Hennig: „Trabanten“. Piper Verlag München 2002, 287 Seiten, 19,90 €

Besagter Falko Hennig erzählt in „Trabanten“ die Entwicklung seines Helden Henry Täuflers entlang motorisierter Fortbewegungsmittel. Eine Lebensgeschichte, deren Leitmotiv das Fahren ist – schön nachvollziehbar vor dem Hintergrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit der meisten DDR-Bürger, mit viel Hingabe und Detailfreude entworfen und in einem durchgängig lockeren und nur vermeintlich sorglosen Ton erzählt.

Das Mondmobil des Sandmännchens, die Holz-, Fantasie-, und Sandautos des kleinen Henrys, die Zweiräder des Vaters, der Sapo des Großvaters, die Trabants, Wartburgs und später, nach der Wende, die schrottigen Mantas, Käfers und wieder Trabants: Hennig listet sie alle auf, die Fahrzeuge der DDR, und berichtet in ihrem Windschatten vom ostdeutschen Alltag und manchen real existierenden Realitäten, die sich auch durch noch so viel Begeisterung für Autos nicht zurückdrängen lassen. Von Erich Honecker zum Beispiel, der sich mit seinem ägyptischen Staatsgast Sadat durch Henrys Heimatstadt Ludwigsfelde durchwinkt, oder von Henrys Mutter, die ihren Sohn anfaucht, nicht zu desertieren, als das Land kurz vor dem Zusammenbruch steht: „Jetzt, wo unser Land uns braucht, Für unser Land, hast du nicht Christa Wolf im Fernsehen gesehen?“ Einen richtig harten Break gibt’s erst, als Hennig versucht, die kleine, private Geschichte seines Helden mit der „großen“ amtlichen Geschichte kurzzuschließen, und er die Lebenserinnerungen des Raketenbauers Wernher von Braun von einer Stasimitarbeiterin protokollieren lässt. Notdürftig vernäht durch das Haus Wernher von Brauns in Ludwigsfelde, das später Täuflers Elternhaus wird, und die Mondlandungen der Amerikaner, deren nachlassende Bereitschaft von Braun im hohen Alter beklagt (Mondmobil!), wirkt dieser Abschnitt in Hennigs Roman selbst wie ein großer, raketenähnlicher Fremdkörper. Henry ist Wernher und umgekehrt? Zwei Schelme, die sich ihr Leben lang in frühkindlichen Phasen bewegen? Albert Speer auf der Autobahn und Kraftwerks Autobahn? Man weiß es nicht.

Den so genannten Ringschluss bekommt Hennig im dritten Kapitel wieder besser hin. Henry ist unablässig unterwegs, holt Versäumtes nach und lebt den Traum von der supermobilen Gesellschaft, mehr schlecht als recht, aber immerhin. Dass Hennig nun gerade in diesem Kapitel Titel und Inhalt seines Debütromans „Alles nur geklaut“ auf die Produktion seines Nachfolgers anwendet und manche Anekdoten und Erlebnisse erneut und mitunter wortgetreu zum Besten gibt, passt dann auch: In Treue fest zu sich selbst und dem eigenen Archiv.

Herr Less

André Kubiczek: „Junge Talente“. Rowohlt Berlin, 2002, 223 Seiten, 16,90 €

Auch André Kubiczek hält es in seinem Erstling „Junge Talente“ nicht so sehr mit einem Erinnern für Schul- und Geschichtsbücher. Das klassische Grundmotiv seines Romans kennt weder Zeiten noch Systeme: Junger Mann verlässt sein Nest und zieht in die Welt hinaus, in diesem Fall von einem Ostharzer Städtchen nach Ostberlin. Leben und aufstehen lernen, auf das Recht pochen, anders zu sein – Less, so der Name von Kubiczeks Held, unternimmt die ersten Schritte dazu noch in seiner Heimat, am Tag des alljährlichen Wettsingens der Kanaren: eine New-Wave-Frisur, es sind schließlich die Achtzigerjahre, ein schwarzer Fünfzigerjahreanzug, knöchelhohe, schwarze Arbeitsschuhe – und fertig ist der neue Romantiker vom Land. Der Besuch seiner Ostberliner Cousine veranlasst Less dann endgültig, gen Hauptstadt zu ziehen.

Als Leser ist man an dieser Stelle zunächst etwas enttäuscht. Schon wieder Berlin! Doch versöhnt Kubiczek schnell mit seinem Figurenpersonal, auf das er Less in Berlin treffen lässt: Punks, alternde Hippies, Dandys und Flygirls. Sie allesamt sind Vertreter unterschiedlichster Subkulturen, sie allesamt entwerfen ihre Lebenspläne weiträumig an der DDR vorbei. Das Gegenmodell dazu, die Leute, deren Suppe einer wie Less nun gar nicht essen will, bilden die Durchschnittsbürger, denen er zum Beispiel bei seinem Job als Postverteiler begegnet. Für sie allerdings gilt dasselbe wie für Less’ neue Freunde und Bekannte: „Wenn die allgemeine Vergeblichkeit groß ist, hält sich die persönliche Verzweiflung in Grenzen“.

Nicht leicht also, sich in so einem Umfeld zukunftsträchtig zu orientieren. Less merkt schnell, dass er sein Leben „schlecht auf Klangteppichen aufstellen kann“, auf Songzeilen von den Smiths, New Model Army oder Killing Joke, und dass es auch mit Büchern von Hysmans, Joyce oder Kafka nicht getan ist.

Stellenweise wirkt Kubiczeks Buch wie ein Exzerpt aus dem Pop-Kanon der Achtzigerjahre: mit allen Brechungen und Vergeblichkeiten, mit allen Verfeinerungen und dem ganzen Bewusstsein davon, über Revolutionen nur noch in Anführungen und Zitaten sprechen zu können. Ostberlin? Oder Bochum? Less? Oder Lehmann? Da sind nur wenig Unterschiede auszumachen. Die Achtzigerjahre scheinen, im Nachhinein zumindest, schon eine vereinigte gesamtdeutsche Jugend gehabt zu haben; eine Jugend, die hüben wie drüben nicht mehr wusste, wie und wogegen sie sich auflehnen soll. So sagt Less sich irgendwann im Suff, „dass nur eine glückliche Liebe wahr sei und rein“, und verlässt mit dieser Erkenntnis Ostberlin zurück in Richtung Heimatstadt: die Leiden des jungen Less auf einer sentimentalen Reise durch die DDR. Ein Hintertürchen aber gibt’s: „Bleibst du wirklich hier?“, wird Less von seinem Freund Nathanel gefragt: „Wahrscheinlich nicht.“

Felix S.

Jana Simon: „Denn wir sind anders“. Rowohlt Berlin 2002, 247 Seiten, 14,90 €

Anders als in den Romanen von Hennig und Kubiczek liegt über fast jeder Zeile von Jana Simons „Denn wir sind anders“ eine große Melancholie. Was allerdings ihr Sujet mit sich bringt: Jana Simon erzählt die Geschichte ihres Freundes Felix S., der sich im Alter von 31 Jahren im Sommer 2001 in einer Moabiter Gefängniszelle das Leben genommen hat. „Immer wenn sie an Felix dachte“, heißt es zu Beginn, da die Erzählerin in Felix’ altem Zimmer sitzt, „war das Gefühl des Verlustes so mächtig, dass es in ihrem Innern einen dumpfen Schmerz erzeugte, als schlage ihr jemand mit voller Kraft auf die Brust.“

Es ist zuvorderst ein persönlicher Verlust, der hier das Schreiben antreibt, und es sind auch diffuse Schuldgefühle, die hier die Erinnerung leiten. Da sich die Wege der Erzählerin und von Felix nach der Wende getrennt haben, besteht die Erinnerungsarbeit dieses Buches vor allem auch in den Gesprächen, die Jana Simon mit Großeltern, Freunden, Freundinnen und Bekannten von Felix nach dessen Tod geführt hat.

Jana Simon aber will mit dieser Art literarischer Reportage, in der sie selbst immer in der dritten Person auftaucht, mehr als nur ein Leben nacherzählen. „Denn wir sind anders“, der Titel sagt es unmissverständlich, soll zusätzlich die Beschreibung einer Generation sein, die „vom Hass und der Gleichgültigkeit in Bezug auf ihr Land geprägt ist und sich später in ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen vereinigt“.

Dass sie diese Generationsbeschreibung ausgerechnet an einem wie Felix aufhängt, will zunächst nicht recht passen: Wie ein durchschnittlicher Repräsentant wirkt er nicht gerade, wie ein Henry Täufer oder Less. Zu außergewöhnlich ist seine Geschichte: Das Kind einer Frau, deren Eltern Anfang der Sechziger aus Südafrika fliehen mussten und in der DDR unterschlüpfen konnten; ein Junge, der seiner dunklen Hautfarbe wegen schon auffällt; der dann Sportarten wie Karate und Kickboxen lernt und sich nach der Wende ausgerechnet in der rechten Hooligan- und Türsteherszene Ostberlins herumtreibt und in die Halb- und Unterwelt abrutscht. Zu interessant ist dieses Schicksal, als dass man es hätte ungeschrieben lassen können, zu bewegt auch das der Großeltern, deren Geschichte Simon parallel zu der von Felix erzählt.

Folgt man Simon, sind es vor allem die emotionalen Bindungen, die diese Generation der in den frühen Siebzigerjahren Geborenen in Ostdeutschland in ihrem Innern konstituieren. Diese Bindungen bestimmen auch Felix’ Charakter, trotz seines ambivalenten und gewalttätigen Umfeldes: Zeit seines Lebens, schreibt Simon, habe er „festgehalten an diesen alten Freunden von damals, aus dem untergegangenen Land. Loyalität war ihm wichtig, wenn auch die nicht mehr existierte, was bleibt dann? Welche Festpunkte hätte sein Leben dann noch?“

Es sind viele Fragen, die sich Simon nach Felix’ Tod stellt, Fragen wie: „Kann man einen Menschen jemals so kennen, dass man etwas sieht, was man selbst nicht sehen will?“ Die meisten von ihnen lassen sich wohl mit einer noch so präzisen und lückenlosen Erinnerung nicht mehr beantworten.

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