mitschriften aus der letzten reihe : Davidsterne im Stadion
Wohl kaum jemand wird derzeit so sehr um seinen Beruf beneidet wie Andrei S. Markovits. Eigentlich ist der 1948 als Sohn ungarisch-jüdischer Eltern in Rumänien geborene Markovits Professor für Politikwissenschaft und Deutschlandstudien in Michigan. Er selbst bezeichnet sich aber lieber als hauptamtlichen Sportgucker. Sport- und Fankulturen sind sein Spezialgebiet. Im Moment ist er Gastprofessor für Sport- und Fußballstudien an der Dortmunder Uni.
Ins WM-gestimmte Berlin ist er am Dienstag gekommen, um im Jüdischen Museum über jüdischen Identität im Sport zu reden. Während sich ein paar Kilometer weiter die Seleção warmläuft und 200.000 Menschen auf der Fanmeile drängeln, muss sich Markovits vor ausgedünnten Rängen mühen. Damit hier auch ein bisschen Stimmung aufkommt, erzählt er von den Sporthelden seines Vaters, die auch zu denen des Sohns geworden sind: Identifikationsgestalten, die nicht nur sensationelle Erfolge feierten, sondern auch ihr Judentum offensiv präsentierten.
Der Baseballstar Hank Greenberg beispielsweise weigerte sich an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, für sein Team, die Detroit Tigers, aufzulaufen. Und der Boxer Max Baer – der, wie Markovits’ Vater niemals hat glauben wollen, tatsächlich gar nicht jüdischer Herkunft war – trug 1933 bei seinem Kampf gegen Schmeling den Davidstern auf der Hose: Jeder Treffer im Ring sollte ein symbolischer Schlag gegen Hitler sein.
Aber das war einmal. Markovits schließt die Augen und lächelt. Heute sind das fast vergessene Tatsachen, die für die jüdische Sozialisation vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert ungemein wichtig waren. Zwar gibt es, stellt er fest, im Judentum keine echte Tradition sportlich-körperlicher Betätigung. Während der Industrialisierung aber verband sich jüdische Identität häufig mit dem Sport zu einem Akt der Emanzipation – von gesellschaftlichen und nicht zuletzt auch eigenen religiösen Konventionen.
Diese Bedeutung des Sports in der jüdischen Kultur mag manchem, der immer noch dem – wie Markovits es nennt – „Klischee des Bücherjuden“ erlegen ist, weit weg sein. Doch versucht der Profi-Sportgucker dem Publikum die Augen für Phänomene zu öffnen, die sich aus der Beziehungsgeschichte von Judentum und Sport herleiten lassen. Ein Blick in heutige Fußballstadien reicht, um eins der ungewöhnlichsten zu beobachten.
Dass es tatsächlich Fußballspiele gibt, bei denen von den rivalisierenden Fanblocks der Holocaust in einer streng abgestimmten und mit Requisiten ausgestatteten Choreografie performiert wird, mag man kaum glauben. Ajax Amsterdam, die Tottenham Hotspurs, Austria Wien oder MTK Bukarest sind die bekanntesten der Vereine, deren Anhänger sich die zum Teil jüdischen Wurzeln ihres Klubs angeeignet und zu einer reichlich ungewöhnlichen Fankultur umfunktioniert haben. Zwar gibt es heute, wie Markovits feststellt, weder unter den Spielern noch unter den Fans der Clubs einen nennenswerten Anteil von Juden.
Trotzdem werden blauweiße Fahnen mit dem Davidstern ausgerollt, und die Kippa ist die bevorzugte Kopfbedeckung der Stadionbesucher. Makaber wird das Ganze durch das Verhalten der gegnerischen Fans. Die „Yiddos“, wie sich die Fans der Hotspurs bezeichnen, werden mit Zischlauten begrüßt, die das Austreten von Gas nachahmen sollen. Und die antijüdischen Fangesänge, die Markovits zitiert, sind so abgründig, dass sie an dieser Stelle nicht wiederholt werden sollen.
Mit großer Gelassenheit berichtet der Soziologe von diesen Ritualen, für die Verharmlosung eine ebenso unpassende Bezeichnung ist wie Fankultur. Markovits stellt das Gebaren der Fans eher als eine recht eigenwillige Form der gegenseitigen Abgrenzung von Images dar, denen mit politischer Korrektheit kaum beizukommen sei. Vielleicht will der Professor aber an diesem sonnigen Abend auch einfach seinen Zuhörern nicht die Lust auf den Fußball verderben. Dass Bomberjacken tragende Hooligans nach wie vor das wohl größte Problem des Fußball sind, ist nichts Neues. Nach Markovits’ Vortrag aber wird man auch auf die bunt beschalten Fans mit etwas gemischten Gefühlen blicken. WIEBKE POROMBKA