mein achtundsechzig:
von MICHAEL RUDOLF
Sieben Jahre nach meiner Geburt hatten wir 1968, und mein Onkel in Westberlin wurde einer von denen, die sich nach diesem Jahr benannten, was in diesem Jahr wohl kaum vermeidlich gewesen ist. Meine Ostberliner Tante mani- und pedikürte den siechen Ex-Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann in Grund und Boden.
Um diese Zeit war nun die junge tschechische Nachbarrepublik schlagartig in ihr Flegelalter gekommen, und es könnte einer von diesen schönen, lauen Sommernachmittagen gewesen sein, als ich mit dem Großvater die Steinpilzreviere abging, da fiel moskowitische Infanterie in unser südliches Zonenrandgebiet ein. Ein lustiges Panzerkettenrasseln und ein käsescheibendünner Hauch von Waffenöl lagen über den Wipfeln. Beunruhigt hat uns das weniger. Denn zunächst passierte nichts. Dann wieder nichts. Dann erst recht nichts. Erst auf dem Heimmarsch wurden wir unversehens mit dem Befehl „Stoji Obrat!“ gestellt. Um die erbeuteten Waldkobolde vor bolschewistischem Zugriff zu retten, spannte ich fix meinen Flitzebogen, bis er die Rundung des Herbstmondes zeigte. Das korrekte Zielen aber vereitelte eine Schule Essigfliegen, die meinen aus einer halben Melonenschale bestehenden „Ritterhelm“ umsumselte. Ehe ich michs versah, hatte der Sowjetkosak meinem Versuch, die Weltgeschichte um einige, vielleicht entscheidende Augenblicke aufzuhalten, durch Zerbrechen der Spielzeugwaffe ein Ende gemacht. Die Gesamtheit meiner exkretorischen Organe begann augenblicklich in Aktion zu treten. Und eine wie vorbestraft herumlümmelnde Riege Krüppelkiefern schwieg dazu, wie sie zu der ganzen völkerrechtswidrigen Invasion geschwiegen hat.
Die Umgebung unserer Stadt füllte sich im Nu mit der erdbraunen Asiatensoldateska auf. Wir sahen sie besessen aus Metallbüchsen essen und hörten sie „Komm, Frau!“ rufen. Jedenfalls, vom wachhabenden Offizier ans Lagerfeuer geladen, erhielten wir beiden Gefangenen zur Verblüffung der westlichen Fachwelt: 1. die Pilze zurück und 2. freies Geleit bis zum Waldrand.
Noch verblüffender war, dass die jungen Bolschewiken tags darauf bereitwillig ansehnliche Teile ihrer leichten Bewaffnung gegen Erzeugnisse der volkseigenen Spirituosenindustrie eintauschten. Leider ohne Munition, sodass ich meine „Makaroff“ später im Wald verbuddelt habe. Man erzählte sich allerdings von dieser Handfeuerwaffe, dass sie weit hinterm Ural von versklavten Turkvölkern aus einem Stück gefeilt wurde. Auch konnte uns niemand glaubhaft versichern, jemals damit einen die Bezeichnung „Schuss“ zu Recht tragenden Zündvorgang ausgelöst und mit dem Treffen eines vorher anvisierten Zieles in zwingenden Zusammenhang gebracht zu haben. Aber geworfen verursachte dieser Schraubenhaufen auf mittlere Distanz manch blauen Fleck. Ich jedoch habe aus blankem Schiss sogar den genauen Fleck vergessen, wo ich sie verbuddelt hatte. Abgesehen davon ein schönes Achtundsechzig, wie ich heute noch finde. So, und jetzt möchte ich Außenminister werden.
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