lehrter bahnhof: Es lebe die Provinz!
Wer es sich noch leisten kann, mit der Bahn nach Westdeutschland zu reisen, kann bei Hannover ein nicht sehr spektakuläres, gleichwohl zum Schmunzeln anregendes Erlebnis genießen: eine Fahrt durch den Lehrter Bahnhof. Das dauert ungefähr zwei Sekunden – aber in diesem Augenblick kann man mit seinem historischen Wissen prahlen: „Wusstet ihr, dass von diesem winzigen Bahnhof der Name unseres Lehrter Bahnhofs in Berlin herkommt?“
Kommentar von PHILIPP GESSLER
Nun will Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) uns als alte Spaßbremse diese kleine Freude nehmen. Unser Lehrter Bahnhof soll umbenannt werden. Und wie es fast immer ist in der Provinzmetropole an der Spree: Schon ist man wieder im Irrgarten der deutschen Geschichte:
„Zentralbahnhof“, wie es Bahnhofchef Hartmut Mehdorn möchte, wäre unpassend, denn das erinnerte an den „Zentralflughafen Tempelhof“, den uns die Nazis unselig vermachten. Man hört schon die (zu Recht) gehässigen Bemerkungen geschichtsbewusster Berlinerinnen und Berliner: „Ah, also doch wieder Großmacht!“ – oder so.
Der Vorschlag „Hauptbahnhof“, den Strieder in Spiel brachte, geht natürlich auch nicht, denn das würde alle Ostberliner etwas pikieren, die ihren „Hauptbahnhof“ nach wie vor östlich des Alex verorten. „Berlin-Mitte“ wäre zwar geografisch richtig, aber klingt doch etwas nach Politik. Und „Berlin-City“ – also bitte: Ein englischer Name für ein zentrales Projekt der deutschen Hauptstadt?!
Nein, sympathisch ist und bleibt der Ausdruck „Lehrter Bahnhof“: Er hat etwas Bescheidenes, geschichtlich Gewachsenes, Föderales und würde nur ehrlich anzeigen, was Berlin auch stets hat: etwas Provinzielles. Protzig ist in der Gegend um den Bahnhof mittenmang zwischen Kanzleramt und Reichstag schon allzu viel.
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