kunstraum: Kolonialismus revisited
Neuerdings fährt die U22 zur Adijatu Straße. Jedenfalls in der gleichnamigen Ausstellung von Toyin Ojih Odutola
Das Afrikanische Viertel im Wedding ist eine Art Phantomgeografie mit seinen Straßen, die mitten in Berlin Ghana, Kamerun, den Kongo oder Uganda aufrufen und lange Zeit auch die übelsten Gestalten der deutschen Kolonialgeschichte. Nachdem diese Namen endlich getilgt und durch die Namen afrikanischer Widerstandskämpfer:innen ersetzt wurden, gelangt man seit Neuestem vom Hamburger Bahnhof aus mit der U-Bahnlinie 22 zur Adijatu Straße – jedenfalls in der gleichnamigen Ausstellung von Toyin Ojih Odutola. Die 1985 in Ile-Ife in Nigeria geborene und in den USA aufgewachsene Künstlerin hat den Ostflügel dort in typischer U-Bahn-Manier gekachelt, mit den entsprechenden Säulen ausgestattet sowie einer Anzeigetafel der Haltestellen.
Mit Anhängseln wie Straße, Dorf oder Oper benennen die Stationen der U22 Ojih Odutolas Ausstellungen der vergangenen 17 Jahre, etwa „A Colonized Mind Dorf“ (Alabama 2008) oder „A Countervailing Theory Garten“ (London 2020). Von Raum zu Raum wird man durch eine Stimme begleitet, die die Ankunft oder Abfahrt der U-Bahn in der nach Ojih Odutolas Yoruba-Vornamen benannten Station „Adijatu Straße“ ankündigt. Die Stimme gehört Benjamin, einem Cousin der Künstlerin, der in Berlin lebt.
Er ist auch Protagonist in einer ihrer Zeichnungen, die Ojih Odutola mit Kugelschreibertinte, Kohle, Graphit und Pastellkreide malt – üblicherweise Materialien für den Entwurf eines Gemäldes. Die Künstlerin kehrt diese Hierarchie der Materialien um. Zwar zeigt sie ihren Cousin mit der bekannten Coronamaske hinter Gittern, was dem Klischee des straffälligen schwarzen Jugendlichen zu entsprechen scheint. Sie versteht das Porträt, das große Thema ihres Werks, aber auch in der kunsthistorischen Tradition als Repräsentationsmedium der Reichen und der Mächtigen. Gleichzeitig verkompliziert sie aber das Oben und Unten, unter andrem indem sie ihre Arbeiten als ausgefeilte Narration installiert – wie jetzt mit der U-Bahn-Fahrt.
Bis 4. Januar 2026, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Invalidenstr. 50, Di/Mi/Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr
Die Geschichte eines männlichen Liebespaares in Nigeria interessiert sie, weil es dort toleriert wird, wenn es der Oberschicht angehört. Im Gespräch mit Sam Bardaouil sagt sie: „In Westafrika gibt es viele reiche Menschen à la Trump, aber ich wollte die beiden Männer durch einen anderen Frame betrachten.“ Und sie ergänzt: „Als Metapher funktionierte der Reichtum trotzdem, ich weigere mich einfach, die Schrecken des Kolonialismus abzubilden“. Diese versteckte Forderung empfinde sie als sehr frustrierend und ermüdend.
Ihre stärkste Waffe gegen das koloniale Elend ist freilich ihre stupende Porträtkunst, die sie in Konzeptkunst überführt. Denn nach eigener Aussage strebt sie darin „Ökologie, nicht Mimesis“ an. Letztlich betrachte man kein einzelnes Individuum, sondern „etwas sehr Dynamisches, das auf die Zeitumstände und unsere Umgebung reagiert.“ Das habe sie auch ermuntert, „mit Kohle und Pastell zu arbeiten“, trockene Materialien, die sie durch ihre Vielseitigkeit faszinieren.

Brigitte Werneburg
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