künstliche welten, konsumparadiese etc.: Virtual Italy vor Tokio: Die Vergnügungsinsel Odaiba
Auf Müll gebaut
Man stelle sich vor, Italien läge um die Ecke. Außerdem ist es porentief rein, angenehm klimatisiert, und obendrein kann man etwa alle zwei Stunden erleben, wie sich eine romantische Dunkelheit auf die idyllischen Gässchen legt. Das virtual Italy, von dem die Rede ist, befindet sich in Venus Fort, einem Konsumparadies auf einer künstlichen Insel in der Bucht von Tokio.
Venus Fort ist ein Einkaufszentrum, das mehr ist als nur eine Art aufgepepptes Parkhaus mit etlichen Geschäften. Das Konzept von Venus Fort zielt auf jene Schicht junger japanischer Frauen ab, die sich in teure Designermarken kleiden, Wert auf eine elegante Umgebung und exotisches Ambiente legen und bereit sind, dafür tief in die Tasche zu greifen. Um ihre Bedürfnisse zu decken, wird eine Menge geboten: Man kann bei Christian Dior in Windeseile ein Vermögen loswerden und sich dann in einem Fotostudio wie ein Model ablichten lassen. Wenn man sich dann doch einmal die Nase pudern muss, steht das größte Badezimmer Japans zur freien Verfügung. Sogar heiraten kann man in dieser Wunderwelt: Eine Kapelle samt Kirchhof steht dafür bereit, sich das Jawort zu geben.
Die Tatsache, dass Venus Fort auf der künstlichen Insel Odaiba liegt, passt ins Bild der futuristischen Kulisse: Schon der Weg dorthin, den man in einem fast geräusch- und geruchslosen Wunderwerk des Personennahverkehrs zurücklegt, beschwört Zukunftsvisionen herauf. Der so genannte New Transport Yurikamome, zu deutsch „Seemöwe“, gleitet auf Gummirädern vollautomatisch und fahrerlos über seine Trasse. Passiert die Möwe die Rainbowbridge, erhält der Besucher einen Blick auf die Skyline von Odaiba, dominiert durch das größte Riesenrad der Welt und einen silbern glänzenden Quader. Mit seinen verspiegelten, federleichten Obergeschossen aus Streben, deren geometrische Strenge von einer großen Kugel aufgebrochen wird, ist das von Japans weltberühmtem Architekten Kenzo Tange entworfene Bauwerk das publikumswirksame Zuhause des Fernsehsenders Fuji TV. Darüber hinaus befinden sich auf Odaiba auch das Einkaufszentrum Decks, das in seinen zwei obersten Stockwerken nicht Italien, sondern Hongkong nachgebaut hat, einige Luxushotels ebenso wie ein Schiffsmuseum.
Während es in den ersten zehn Jahren nach der Aufschüttung auf Odaiba außer Ödland und Baustellen noch nicht viel zu sehen gab, stellt es seit Mitte der 90er-Jahre das am schnellsten wachsende Vergnügungsviertel im Großraum Tokio dar. Die nationale japanische Organisation für Tourismus, JNTO, preist die Insel mit dem Slogan „Hier erwartet Sie das 22. Jahrhundert!“.
Der heutige Glanz täuscht darüber hinweg, dass sich die Insel eigentlich einem Müllentsorgungsprojekt verdankt. Tokio krankt schon seit Jahren an einem massiven Abfallproblem: Von den rund 12.000 Tonnen Müll, die im Großraum der Stadt täglich produziert werden, gelangen trotz aller Versuche, das Recyclingsystem zu verbessern, lediglich etwa 5 Prozent in die Wiederverwertung. Ein großer Teil wird in den 18 Verbrennungsanlagen der Stadt umgewandelt, während die Asche und der nicht brennbare Müll zur Landauffüllung in der Bucht von Tokio genutzt werden.
Während es vielen Ausländern seltsam vorkommt, Naherholungsgebiete und Sportanlagen ausgerechnet auf Mülldeponien zu errichten, erfreuen sie sich in Japan großer Beliebtheit: Allein nach Odaiba strömen, so wird geschätzt, etwa 30 Millionen Besucher pro Jahr. Der Grund dafür liegt auf der Hand, besitzt Odaiba doch, was in der Umgebung von Tokio eine Rarität darstellt: Weitläufigkeit. Die Insel misst etwa 450 Hektar, über die der Blick schweifen kann, ohne direkt gegen die nächste Fassade zu prallen. Wenn sich abends die Pärchen eng umschlungen am Strand tummeln, können sie sich, fern der Menschenmengen und der sozialen Enge einer Nachbarschaft, sicher sein, niemanden zu stören und auch selbst weitgehend ungestört zu bleiben.
Darüber hinaus löst eine künstliche Umwelt, wie sie Odaiba darstellt, bei den meisten Japanern, anders als bei vielen Europäern, keine Beklemmungen aus. Einer der Gründe dafür liegt wohl in den Unterschieden der natürlichen Gegebenheiten, die Japan und Europa aufweisen. Zwar nimmt die Natur innerhalb der japanischen Kultur einen sehr hohen Stellenwert ein: So wird der Wechsel der Jahreszeiten mit ihren besonderen Kennzeichen wie der Kirschblüte, der Sommerhitze, der Verfärbung der Ahornblätter im Herbst und der Kälte im Winter sehr bewusst wahrgenommen und jedes Jahr aufs Neue zu einem nationalen Ereignis hochstilisiert.
Allerdings ist man in Japan auch ständig mit den erschreckenden Seiten der Natur konfrontiert, wie den stets wiederkehrenden Erdbeben und Taifunen, die den Menschen auch in der heutigen Zeit immer noch ein Gefühl der Hilflosigkeit vermitteln. Anders als in Europa, wo die Naturgewalten weitgehend gebändigt zu sein scheinen und daher die Wildnis eine besondere Attraktion darstellt, ist diese Faszination für viele Japaner eher unverständlich. Stattdessen sucht man nach einer Umwelt, von der keine Bedrohung ausgeht – auch wenn diese nicht das „Original“, sondern einen künstlichen Ersatz darstellt. FRAUKE KEMPKA
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