kritisch gesehen: Ein Backstein geht in die Breite
Der „Hamburger Ziegel“ verleiht seit 1992 der vielfältigen örtlichen Literaturszene eine kompakte Form: Die Anthologie erscheint alle zwei Jahre. Und diesmal glänzt sie sogar
Another brick liegt vor: Seit 1992 erscheint alle zwei Jahre ein Ziegel, so heißt das Hamburger Jahrbuch für Literatur. Jetzt ist der Ziegel Nummer 19 erschienen. Er versammelt 50 Stimmen von Hamburger Autorinnen und Autoren, darunter die von Simone Buchholz und Mirko Bonné, die beide von Anbeginn an dabei sind. In „Michelle“ porträtiert Bonné den ältesten Hamburger Plattenladen am Getrudenkirchhof „Wenn die Finger blätterten durch leichte gekippte Klarsichthüllen alphabetisch einsortierter Platten, blieb für sieben Songs die Schwerkraft aus. Wir fühlten alles, jede kleine Atempause“. Der kurze Text ist komponiert wie eine Single, weckt die Erinnerung an das Glück des Schallplatten-Anfassens und -Auflegens, an die vertraute Abfolge der Songs.
„Michelle, ma belle. These are words that go together well“, sangen einst die Beatles. Dieser „Ziegel“ hat viel mit Musik zu tun, wie ja Literatur überhaupt die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann. Es ist also nur plausibel, dass eine Playlist mit den Lieblingssongs der 50 Autoren mitgeliefert wird. Antje Flemming und Jürgen Abel haben die „Ziegel“-Texte kuratiert und die Comics von Moritz Wienert eingestreut. Sie schöpften dabei aus einem reichlichen Reservoir, den Einreichungen für die Hamburger Literaturpreise. Der Literaturbetrieb beschreibt also einen Kreis: Wer in der Hansestadt literarisch schreibt, hat gute Chancen, im „Ziegel“ vorzukommen.
Carsten Brosda schildert in „Weltschmerz? Echt jetzt!“, wie ihn der Schüleraustausch ihn nicht wie gewünscht nach Seattle (Jimi Hendrix! Nirvana!) sondern nach Houston führte. Texas wird zur Initiation, dort musste er einfach der Country-Musik verfallen. Anders Rainer Moritz. Der nimmt einen Schlager-Liebhaber in Schutz. Dieser unverrückbar Konservative sinniert beim Auflegen einer verkratzten Roland-Kaiser-Langspielplatte, dass es Menschen geben müsse, die stehen blieben und einfach nicht mit der Zeit gehen wollten. Johann Scherer ist mit einer Passage aus seinem kürzlich erschienenen Roman „Play“ vertreten. Der Dialog zwischen einem Musikstar und seinem Produzenten ist hoch unterhaltsam durch eine gebremste, in jeder Zeile spürbare Aggressivität. Wie altbacken wirkt dagegen die Zwiesprache zwischen Anna Depenbusch und ihrem hundert Jahre alten RACHALS-Flügel. Ihrem Instrument, das sie Frau Rachals nennt, verdanke sie ihre Inspiration. Das hatte Depenbusch bereits in einem YouTube-Video erzählt. Bedauerlich, dass sie sich nicht für die Geschichte der Hamburger Pianofortefabrik Rachals (1834–1957) interessiert, die einen ganzen Roman ergäbe. Lavender Szymula hingegen behauptet „Ich habe das Gedicht nicht geschrieben“ und liefert zugleich unter dieser Titelzeile das schönste Gedicht: „und dann lag es plötzlich da“. So muss Dichten wohl gehen.
„Ein paar Stunden nach der Geburt werden die meisten überrumpelt“: von den unvorhersehbaren Folgen des Mutterseins handelt Anne Ottos Erzählung „Auf dem Bauteppich“, die schöne Einsichten formuliert: „Seit ich Mutter bin, habe ich unzählige Male den Impuls gehabt, mich für die Dominanz der Kleinfamilie zu entschuldigen.“
Ziegel #19 – Das Hamburger Jahrbuch für Literatur 2025, herausgegeben von Jürgen Abel und Antje Fleming, Hamburg, Mairisch Verlag 2025, 408 S., 20 Euro
Die Vermessung der Literatur in Hamburg, das bietet der Ziegel 2025. Der Sound hat sich gegenüber früheren Ausgaben verändert. 2004/5 hieß es noch, die Publikation sei eine „Wundertüte voller Texte zwischen E- und U-Literatur“. Nun, 2025, hofft Kultursenator Carsten Brosda im Vorwort, dass Literatur in unserer rohen Gesellschaft neue Verbindungen und Gemeinsamkeit schaffen möge. Optisch geht das Jahrbuch mit der Zeit, das Cover glänzt grün metallic. Ohne Glanz ist heute eben alles nichts. Und während die erste Ausgabe 1992 tatsächlich noch das Hamburger Ziegelsteinformat von 220 x 105 x 55 Millimetern hatte, ist der Ziegel ziemlich in die Breite gegangen ist, leider – als handele es sich um getretenen Quark und nicht einen Stein, der beständig und von Dauer ist. Wie die Literatur. Frauke Hamann
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