kritisch gesehen: Recherche passt auf eine Bühne
Die Live-Journalismus-Show „Jive“ gastiert in Hamburg und müsste dringend aufs Land
Adrian Garcia-Landa schlappt mit einem Stoß Karteikarten auf die Bühne. Ein Rednerpult mit Spielzeug-Mercedes und Mini-Flagge der Region Ostprignitz-Ruppin warten da, am Bühnenrand Pappschilder mit Begriffen wie Pressefreiheit, Transparenz oder Steuergerechtigkeit. Spielten nicht die vier Musiker vom Orchester „Stegreif“ schon, man wähnte sich eher am Beginn eines Proseminars über Korruption in Brandenburg.
Das Publikum wirkt auch etwas verhalten, applaudiert zögernd. Die Frage, ob eine Live-Journalismus-Show wirklich das ist, was man sich an einem sommerlichen Donnerstagabend antun will, schwebt förmlich über den Köpfen der rund 200 Leute im Saal.
Bei der Reihe „Jive“, die auf Kampnagel in Hamburg zu Gast war, präsentieren Journalistinnen und Journalisten ihre eigenen Recherchen live einem Publikum. Hinter „Jive“, das setzt sich aus Journalismus und live zusammen, steht die gemeinnützige Organisation Headline. 2016 haben sie mit Journalismus-Slams á la Poetry-Slam begonnen und 2023 kamen dann die Journalismus-Shows mit Orchester dazu. Ein „Bühnenmagazin“, so nennen sie das.
Die vier Geschichten des Abends sind auch so bunt wie eine Magazinstrecke: Eva-Lena Lörzers hat über die Demenz-Erkrankung ihres Vaters geschrieben, erzählt, auf der Bühne im Sessel sitzend, über Pflegekrise und Überlastung der Angehörigen. Der deutsch-russische Journalist Nik Afanasjaw nimmt das Publikum mit auf seine Recherchereise nach Spitzbergen, wo ein neuer kalter Krieg herrscht. Die letzte Geschichte spielt in der türkisch-syrischen Grenzstadt Mardin. Jedes Jahr laden Künstler dort zum „Flying Carpet“-Festival. Fotografin Sina Opalk und Artistin Millie Turnad erzählen davon – mit Fotos und verträumt-starker Performance.
Aber den Anfang der Journalismus-Show macht Garcia-Landa mit „Dallas in Neuruppin – eine Wirtschaftskrimisoap auf brandenburgisch“, hübsch aufbereitet mit Fotos von den Guten (die Bürger) und den Bösen (der Landrat und zwei gierige Geschäftsleute), untermalt vom Orchester, das an den passenden Stellen die Dallas-Titelmelodie spielt. Und das funktioniert. Das Publikum bleibt dran, weil Garcia-Landa mit seiner Recherche aufdeckte, wie sich zwei Immobilienhaie über das Geschäft mit Flüchtlingsheimen mindestens zwölf Millionen Euro Steuergeld in die Taschen schaufelten, korrupte Politiker und Dorfbewohner, die ihren Glauben an die demokratischen Grundfesten verloren haben, inklusive.
Es ist dieser Werkstatt-Charakter, dieser Einblick in die Arbeitsweise von Journalisten, der „Jive“ interessant macht. Darum sollte diese Art und Weise, über Journalismus zu reden, nicht nur für ein einschlägiges Großstadtpublikum da sein. Wie wäre es mit den Bühnen in den Landgasthöfen? Dorthin, wo es oft nur noch eine oder keine Zeitung mehr gibt. Ilka Kreutzträger
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