kritisch gesehen: Barfuß durch eine verwüstete Landschaft
Iryna Voronas Zeichnungen im Angesicht des Krieges beeindrucken in Wolfsburg
Mehr Zynismus geht nicht. Ausgerechnet am Abend des 24. Februar, dem dritten Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, hat der Sicherheitsrat als mächtigstes Gremium der Vereinten Nationen in New York eine Resolution verabschiedet, die diese Aggression nicht einmal erwähnt, geschweige denn einen Rückzug der russischen Truppen fordert. Stattdessen wurde in ihr nur eine schnelle Beendigung des Krieges angemahnt. Von den USA ein-, mit Hilfe Russlands und Chinas durchgebracht, ist dieser Entscheid nun völkerrechtlich bindend.
So geht das Grauen an den Fronten und in den von Russland bombardierten Städten und Dörfern der Ukraine ungeahndet weiter. Was bleibt ist die bange Frage: Wie lebt es sich für die geschätzt fünf Millionen Menschen der Ukraine in den okkupierten Regionen, also unter russischer Besatzung? Diese Erfahrung hat die ukrainische Künstlerin Iryna Vorona ganz persönlich machen müssen, als sie im Frühjahr 2022 in einer der von russischen Truppen besetzten Städte nördlich von Kyjiw ihr Überleben organisierte. Für sie bedeutete das: Monate der Isolation, in denen ausreichend Lebensmittel, medizinische Versorgung und grundlegende Freiheiten in unerreichbarer Ferne lagen. Um Struktur in ihre existentielle Not zu bringen, begann sie, Tagebuch zu führen: nicht mit Worten, sondern mit Bildern. So entstanden 248 Kohlezeichnungen, eine für jeden Lebenstag in der besetzten Ukraine. Sie zeigen reale oder imaginäre Porträts und Situationen.
„Im Angesicht des Krieges“ ist eine Auswahl von 23 Zeichnungen betitelt, die das Kunstmuseum Wolfsburg erstmals öffentlich zeigt. Anlass dafür war der traurige dritte Jahrestag des imperialistischen russischen Überfalls. Unter die Bilder hat Iryna Vorona handschriftliche Zahlen in Kohle gesetzt, die auf den konkreten Tag ihrer Entstehung verweisen. Dazu stellt sie neuere Arbeiten, die sich mit unfreiwilliger Migration befassen, und ihr 10-minütiges Video „I am paving the way“. Es bezieht sich auf ihr Erleben im seit März 2022 heftig umkämpften, zunächst besetzten, dann wieder befreiten Browary. Mit nackten Füßen betritt sie dort verwüstetes Terrain, Textpassagen erzählen, wie der Krieg und seine Auswirkungen zur Gewohnheit wurden.
Ausstellung „Im Angesicht des Krieges“,Iryna Vorona, Kunstmuseum Wolfsburg. Bis 25. 5., Di–Fr 10–18, Sa/So 11–18 Uhr
Voronas Kohlezeichnungen sind von einer Intensität, die unmittelbar berührt. Wohl jeder denkt sofort an Käthe Kollwitz: Vorona gelingen mit ähnlich kräftigem, dunklem Strich, teils auf bräunlichem Papier, aufs Archetypische reduzierte Bildnisse des Menschlichen in Ausnahmesituationen. Oft sind es Kinder, die wohl verletzlichsten Leidtragenden eines Krieges, schutzsuchend in den Armen ihrer Mütter.
Die „Große Schwester“ ist wohl genauso ein unersetzlicher Granat für Hilfe in der Not wie einfach nur die vielen Hände, die gemeinsam das Überleben anpacken. Denn darum geht es Iryna Vorona: Sie will der kollektiven Kraft und Widerstandfähigkeit der ukrainischen Menschen Ausdruck verleihen. Denn sie sind in ihrer Einheit stark, „weil sie nicht allein auf dem Weg sind“, wie die Künstlerin es beschreibt.
Iryna Vorona wurde 1987 in Kyjiw geboren, hat dort an der Nationalen Akademie der bildenden Künste und Architektur studiert und promoviert. Ihr Mann ist im Krieg gestorben. Im Herbst 2023 kam sie nach Meinersen. Noch bis Ende Mai ist sie Stipendiatin im dortigen Künstlerhaus. In ihrer Abschlussausstellung zeigte sie kürzlich neue Malereien, die auch versuchen, die Farbe wieder zuzulassen: einen Funken Hoffnung, vielleicht. Aber wie lange brauchen Menschen, um Traumata zu bewältigen, wieder Zuversicht und Vertrauen zu schöpfen, ein neues Leben zu beginnen? Das könnte eine der großen Herausforderungen Europas werden – nach einem Ende des Krieges in der Ukraine. Bettina Maria Brosowsky
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